Zurück   Zur Startseite

Vom Nutzen und Nachteil der Vergeßlichkeit für das Leben

Harald Weinrich über die Vergessenskunst

Unlängst war Arlo Guthrie, der Sohn der Poplegende Woody Guthrie, auf Deutschland-Tournee. Den ganzen Abend erzählte er nur vom Gedächtnisloch. Aber er tat dies so brillant, verzweifelt komisch und originell, daß er sein Publikum förmlich mitriß. Arlo Guthrie mußte seinen übermächtigen Künstlervater vergessen, um selber erwachsen und schöpferisch werden zu können.

In allen Kulturen hat man versucht, sich das Vergessen bildlich vorzustellen. Als "Lethe", als Strom des Vergessens, dachten es die alten Griechen. Die Wahrheit wurde als Gegenteil des Vergessens aufgefaßt, als das Nicht-Vergessene, griechisch "a-letheia". Berühmt ist auch die Vorstellung des Gedächtnisses als einer Wachstafel, die im Altertum ein häufig frequentiertes Aufschreibegerät war, mit dem Vorteil, daß alle Einträge sofort wieder gelöscht werden konnten.

Dieses Löschen, sprich Vergessen, ist Harald Weinrichs faszinierender Studie zufolge nicht unbedingt ein Malus, sondern in vielen Fällen ein Bonus. Die Löschtaste gehört zweifellos zu den wichtigsten Tasten des Computers, und das "Forget it" zu den wichtigsten Errungenschaften unserer Kultur. Weinrich bringt das schöne Beispiel der beiden Biochemiker Watson und Crick, die 1959 ihre epochale Entdeckung der DNS-Struktur auf nur einer Druckseite der Zeitschrift Nature publizierten und dafür umgehend den Nobelpreis erhielten. Die beiden Wissenschaftler folgten bei ihren Forschungen vier Verhaltensregeln: 1. Alles was in einer anderen als der englischen Sprache publiziert ist - forget it. 2. Was nicht als Zeitschriftenaufsatz publiziert ist - forget it. 3. Was nicht in einer der angesehenen Zeitschriften publiziert ist - forget it. 4. Was vor mehr als fünf Jahren publiziert ist - forget it. Dabei steht außer Frage, daß das Vergessen "kontrolliert" erfolgen muß. Watson und Crick wußten genau, was sie vergessen durften und was nicht, um Forschungsgeschichte schreiben zu können. Dieses "kontrollierte" Vergessen nennt Harald Weinrich den "Oblivionismus der Wissenschaft", und er spricht sich dafür aus, diesen Oblivionismus auch zu lehren: Moderne Wissenschaft dürfe nicht nur Wissen vermitteln, sie müsse auch lehren, wie man pragmatisch und erkenntnisfördernd mit den bereits vorhandenen Wissensmengen umgeht. Weinrichs These lautet, daß es keinen wissenschaftlichen Fortschritt gebe, wenn alles zuvor Geleistete, Gedachte, Gelehrte und Geschriebene zunächst aufgearbeitet werden müsse, bevor man selbst das Wort erheben dürfe. In einer Kultur, deren Speicherkapazitäten unendlich sind, muß sich auch die Wissenschaft von dem "sedimentiert[en] und dadurch unauffällig (>latent<) geworden[en]" Wissen dispensieren. Dafür spricht auch, daß vieles Wissen - glücklicherweise - nicht wirklich neu ist, so daß man es getrost ohne größeres Risiko vernachlässigen kann.

Das Vergessen, dies ist eine der zentralen Erkenntnisse der vorliegenden Studie, ist oftmals die Bedingung der Möglichkeit schöpferischer Produktivität. Vom Schriftsteller Gert Hofmann ist ein Wort überliefert, dem zufolge durch das Vergessen produktive Kräfte freigesetzt werden. Gert Hofmann war, bevor er die Schriftstellerei als Hauptberuf betrieb, Deutschlehrer und Germanistikdozent an ausländischen Universitäten. Sein analytischer Verstand wußte, wie Autoren arbeiten, wie ihre Werke "es machen", daß sie funktionieren und Erfolg haben. Aber, so sagte Hofmann, er habe das alles wieder vergessen müssen, bevor er sich hinsetzte, um seinen ersten Roman zu schreiben. Das Wissen wäre hier Last gewesen. Natürlich bedient der Schriftsteller Gert Hofmann hier auch einen alten Topos, dem zufolge das Genie aus sich selbst heraus schöpfen müsse und keine Vorbilder haben dürfe. Doch nicht alle Schriftsteller haben sich so freimütig zum Vergessen bekannt. Arno Schmidt sagte einmal aus Anlaß von "Zettels Traum", er habe zur Vorbereitung Pierers 34bändiges "Conversations=Lexicon" von 1845 "Wort für Wort lesen müssen", um sein "Gehirn in die Falten jener Zeit zu legen": "Und vergessen durfte ich es auch nicht, was ich da gelesen hatte."

Harald Weinrich zeigt, daß mit der Aufklärung ein neues Autorenbewußtsein aufkam und das Ansehen des Gedächtnisses zurückging. Die seit Goethes "Faust" sprichwörtlich lächerliche "Schulweisheit" ist passé, seit an die Stelle des mühsamen Erlernens und Repetierens das Finden und Erfinden traten. Die Gebrüder Humboldt wollten gar die "Lernschule" durch die "Denkschule" ersetzen. Der Ansehensverlust des Erinnerungsvermögens führte auch dazu, daß man der Funktion des Vergessens wieder größere Bedeutung zumaß. Ihren geistesgeschichtlichen Höhepunkt erreichte die "Kunst des Vergessens", interpretiert als funktionale und sinnvolle Technik der Psyche, mit Freuds Psychoanalyse.

Harald Weinrich, der international angesehene und vielfach ausgezeichnete Romanist scheint sich sein Thema der Vergeßlichkeit wie ein Gedächtniskünstler erschlossen zu haben. Sein Buch ist wie ein großer, frei gehaltener Vortrag angelegt, wobei der Vortragende im Geiste die wichtigsten Topoi abzuschreiten und sich von einer wichtigen Vergessensstation zur nächsten zu bewegen scheint. In seiner über weite Strecken literarhistorischen Studie belegt Weinrich, daß die Lethekunst ein alter und ehrwürdiger Gegenstand der Kulturgeschichte ist. Sein Weg führt vom klassischen Altertum (Simonides von Keos, Themistokles, Homer, Ovid, Platon) über Augustinus, Dante, Vives, Rabelais, Montaigne, Cervantes, Thomasius, Lessing, Locke, Kant, Casanova, Goethe, Schiller, Chamisso, Kleist, Fontane, Nietzsche, Freud, Proust und Mallarmé in die Gegenwart (zu Jorge Luis Borges, Heinrich Böll, Primo Levi und Jorge Semprún). Vielfach muß er das Vergessen aus den Spuren erschließen, die es hinterlassen hat, denn wie sonst könnte man von etwas erzählen, das vergessen ist? Jesus von Nazareth brachte einst einige aufgebrachte Pharisäer aus dem Konzept, die von ihm die Verurteilung der Ehebrecherin verlangten. Jesus stellte sich diesem Ansinnen entgegen, indem er sich bückte und mit dem Finger schweigend in den Sand schrieb. Als Aufschreibesystem funktioniert der Sand nicht - und so ist es nicht überliefert, was Jesus in den Sand geschrieben hat. Aber es ist klar: Das Schreiben diente hier dem Vergessen, dem Vergeben und Vergessen unter der einzigen Bedingung: "Gehe hin und sündige von jetzt an nicht mehr!" Vergeben sei der Wissenschaft, daß sie es bis jetzt versäumt hat, über die Kunst und Kritik des Vergessens nachzudenken.

LUTZ HAGESTEDT

Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens.
C. H. Beck Verlag, München 1997. 318 Seiten, gebunden,
58 Mark.

Zurück   Zur Startseite