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Ausgerechnet Bananen

Bernd Wagner erzählt ein neues Märchen aus der neuen Zeit

Da ist nun der große, gesamtdeutsche Gegenwartsroman erschienen, auf den wir alle seit Jahren gewartet haben – und keiner hat΄s gemerkt. Selbst der Ullstein Verlag, dessen literarisches Programm neuerdings eine erfreuliche Akzentuierung erfährt, scheint nicht zu wissen, was er an dem Buch hat. Und es ist auch klar, weshalb: Dieser erste gelungene deutsch-deutsche Roman nach Wende, Öffnung der Grenzen, Zusammenbruch des DDR-Regimes und Wiedervereinigung ist so total anders geraten, als das, was wir von unserer Autorenelite eingefordert haben und quasi herbeischreien wollten, daß es nicht wundernehmen kann, wenn die literarische Öffentlichkeit (noch) etwas auf der Leitung steht. Denn dieser Roman ist anders: Er ist erstens von einem relativ unbekannten Autor geschrieben worden. Ihm liegt – zweitens – offensichtlich eine authentische Geschichte zugrunde. Er verdankt sich – drittens – einer Erzähltradition, mit der wir nicht gerechnet haben – der Mündlichkeit, dem Sprechen, dem Palavern, dem Schwadronnieren. Keine Intellektuellenprosa, vielmehr ein Roman aus dem "Hefen des Volkes", aus den sogenannten "einfachen Verhältnissen". Und er ist, last but not least, unterhaltsam, burlesk, leicht und komisch.

Judith Mehlhorn habe "einen Hang zum Niederen" – so schreibt es ihr schon die Klassenlehrerin ins Zeugnisheft. In Paradies wird Judiths Geschichte erzählt, die (wie man annehmen darf) weitgehend authentische Geschichte einer schwer rheumakranken Frau aus Ost-Berlin, zur Handlungszeit 1993 etwa 47 Jahre alt und seit kurzem Mitarbeiterin des RIAS. In einem Anfall von "Verrücktheit" bricht Judith aus ihrem Alltag aus. Sie bricht auf in den Westen: Angelockt von den Lichtern am anderen Ufer der Elbe fährt sie mit ihrem Freund Konrad und einem lavendelblauen Kleinbus erst nach Hamburg, dann nach Osnabrück und ins Ruhrgebiet. Sie erfährt sich die alten Bundesländer, zieht als couragierte Landstörzerin von Nord nach Süd, über Mühlheim und den Hunsrück nach Lothringen, zurück über Burrweiler nach Bamberg, bis ein imaginärer Ballon sie auf die Insel Kreta entführt. Dieser Ballon, der Judith zur letzten Station ihrer Reise bringt und vollends zum "Weltmenschen" macht, ist vielleicht vor allem als ein (nicht-reales) Hoffnungszeichen zu lesen: denn mit dem lautlos schwebenden Heißluftballon verknüpften viele Bürger der DDR den Wunsch, dereinst über die Grenze in den freien Westen zu fliegen. Der Ballon gehörte zu den verbotenen Kollektivsymbolen der umzäunten Republik, und in Christa Wolfs Erzählung Kein Ort. Nirgends war er nur in der fiktiven Begegnung Kleists mit der Günderode denkbar, um die Sehnsucht auszudrücken, die Fesseln des Daseins überhaupt abzustreifen.

Judith ist die Haupt-, aber nicht die Erzählerfigur von Bernd Wagners Roman. Erzähler ist – laut Fiktion – ein gewisser William, dem Judith ihre Geschichte anvertraut. Ihre Reise sei "verrückt" gewesen, bekennt Judith mit einem gewissen Stolz. Sie hat ihre Deutschlandfahrt in einem Zustand der Ausgelassenheit, der Ekstase, des Außer-sich-Seins erlebt. Judith ist aber auch im psychischen Sinne "verrückt": Sie hat einen veritablen Verfolgungswahn ausgebildet, der sie selbst im Westen nicht zur Ruhe kommen läßt. Ihre Paranoia ist real, ist nicht nur ein "Bild" für den untergegangenen Stasistaat, der etwa seine "Observationen" noch im dritten Jahr der Wiedervereinigung fortführte. Judith ist wirklich krank, und es gibt Momente in ihrem Bericht, da fürchtet man um ihren Verstand und – mehr noch – um ihr Leben. Denn Judith, Rheumatikerin seit 1981, ist in der DDR mit Cortison vollgepumpt worden. Die Ärzte haben an ihr herumexperimentiert, ihr Körper ist aufgedunsen, sie ist längst invalide und – an besonders schlimmen Tagen – nahezu bewegungsunfähig und hilflos.

Im Westen sieht sie sich mit anderen Krücken und Defiziten konfrontiert. Von ihr erfahren wir, wie wir heute leben. Fremd und typisch westdeutsch erscheint ihr das "Leiden an äußerem Überfluß und innerlicher Leere". Äußerer Überfluß? Nur gemessen an der DDR-Realität ergibt das einen Sinn. Denn dieser "soziale Roman" schildert beileibe kein Paradies. Er hat fast ausschließlich den unteren Rand der Gesellschaft im Blick, da wo Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Sozialhilfe die Perspektive vorgeben. Durch Judith erfährt der Westen viel über den Osten: Über das elende Schicksal eines Funktionärssohnes, über das studentische Leben in Erfurt, die Lemuren im Ostfunk und die "Szene" am Prenzlauer Berg, wo es vor der Wende den "einzigen Spielautomaten der Stadt gab, ein rostiges Relikt aus Vorkriegszeiten, in dem Kirschen, Pflaumen und ausgerechnet Bananen um die Wette rotierten".

Ein gewaltiger Leidensdruck lastet auf Judith, seit zu der körperlichen die psychische Beeinträchtigung, der Verfolgungswahn und das Stimmenhören getreten sind. Gleichwohl erfährt diese unbeugsame, ungebrochene Frau das Leben als "höchste[n] Luxus". Krankheit, Leid, Schmerz sind für sie aufgehoben in der Erfahrung: "Denn Erfahrung besteht doch zu neunzig Prozent aus Erleiden, oder?" Auf der anderen Seite kompensiert sie ihre Behinderung mit einem feinen Sensorium, das Erkenntnis stiftet und Erkenntnis vermittelt. Zwei Beispiele: In der Techno-Szene in Hamburg beobachtet Judith, die sich mit ihren steifen Gelenken wie ein "Spastiker" bewegt, daß die Menschen im Westen anders tanzen als im Osten, nämlich solo, nicht miteinander, und nur das eigene Spiegelbild im Blick. Die zweite Beobachtung: Judith fällt auf, daß in der Techno-Discothek die Geräusche der Arbeit zu hören sind, die im Freihafen fehlen. Techno als Simulation von Arbeit – das ist einer jener Erkenntnisblitze, die Wagners Buch so wertvoll machen.

Judith lebt äußerst bescheiden: Ein warmer Eintopf, ein paar Zigaretten, etwas Liebe – mehr braucht sie nicht zum Leben. Doch im Westen dämmert ihr, daß sie, weil sie so wenig vom Leben will, eine "Zumutung für die Menschen" darstellen, daß gerade in ihrer Bescheidenheit "etwas Anmaßendes" liegen könnte. Und an signifikanter Stelle, dort nämlich, wo es um ihre Geschichte geht, ist sie auch äußerst unbescheiden. Ihr Erzählprojekt ist eine Anmaßung, weil sie es ohne Williams Hilfe nicht verwirklichen könnte – und ihn völlig mit Beschlag belegen muß. Wir erfahren aus Williams Prolog, daß er, als der Vermittler einer fremden Biographie, von Judiths Rede so stark dominiert werde, daß er scheitern müsse, wollte er ihr eine eigene Form geben.

Nun, das ist Herausgeberfiktion und darf mit dem realen Zustandekommen des Romans nicht verwechselt werden. Welche Verdichtungsarbeit der aus Wurzen (Sachsen) stammende Bernd Wagner (geboren 1948) hier geleistet hat, kann man nur erahnen. Selbstverständlich ist er der Urheber dieser Geschichte in dieser Form, wer auch immer ihm das Rohmaterial geliefert hat. Auf dem bananengelben Buchrücken ist das Foto eines Mädchens zu sehen – sehr wahrscheinlich jene Bruni, der das Buch gewidmet ist und deren literarisches Alter ego Bernd Wagner hier geschildert hat.

Ein unauffälliger Hinweis auf Wagners Verdichtungswerk und auf sein poetisches Konzept ist, daß er sein Buch in "sieben Nächte" einteilt und auch explizit auf den göttlichen Schöpfungsmythos anspielt. Die sieben Nächte, in denen er seine Herausgeberfigur William die abenteuerliche Reise der Judith Mehlhorn aufzeichnen läßt, sollen uns gewiß auch an die Nachtwachen von Bonaventura denken lassen, deren Autorschaft lange Zeit vergleichbar rätselhaft war, und an den Goldenen Topf von E.T.A.Hoffmann, das "Märchen aus der neuen Zeit", das ebenfalls in Vigilien, sprich Nachtwachen, untergliedert ist. Und noch eine Parallele wäre zu ziehen: Der goldene Topf zeigt den Weg des jungen Anselmus von Dresden nach Atlantis, auf eine Inselwelt also. Paradies zeigt den Weg einer jungen Frau von Berlin nach Kreta, wo der Roman, mit Briefen Judiths an William, in der siebten Nacht endet.

Bernd Wagner ist mit Judith eine Figur geglückt, die gut in eine neue Romantik passen würde: Sie verkörpert den Typus des "vernünftigen Narren", der einer verrückten Welt ihre Auswüchse und Tollheiten vorhalten darf. Judith zeigt das soziale Gewissen der Romantik, das Aufbegehren gegen die willkürlichen und absoluten Hierarchien. Sie ist selber, ähnlich wie die romantischen Helden, tief beeinträchtigt und psychisch gefährdet bis zum Selbstverlust im Wahnsinn. Wagner hat mit Paradies gewissermaßen ein neues Märchen aus der neuen Zeit vorgelegt, so bizarr, farbig, emphatisch, fantastisch, daß die gelenksteife und behinderte Judith durch ihre Einstellung zum Leben die innere und äußere Beweglichkeit repräsentieren kann, die uns allerorten fehlt. Auch die Fusion von Eros und Logos, von Intellektualität und Sensualität, ist ihm über weite Strecken gelungen. Und wenn so fantastische Bücher geschrieben werden, kann es um die deutsche Literatur nicht schlecht bestellt sein.

LUTZ HAGESTEDT

Bernd Wagner: Paradies. Roman. Ullstein Buchverlage, Berlin 1997. 440 Seiten, 44 Mark.

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