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Vergiß die Peitsche nicht

Matthias Polityckis vergnüglicher Weiberroman

Ein Weiberroman wird derzeit heftig diskutiert und geht – kurz nach Erscheinen – bereits in die vierte Auflage. Erzählt wird von Gregor Schattschneider und seiner Éducation erotique, dargestellt an drei Haupt- und einigen Nebenfrauen: an 1. Kristina, der im wesentlichen unerfüllt gebliebenen Jugendliebe, die der Gymnasiast Gregor zwei Jahre lang (zwischen 1972 und 1974) heimlich verehrt und kräftezehrend angebaggert hat; an 2. Tania, einer Zahnarzthelferin aus Wien, die zwei Jahre lang (von 1977 bis 1979) vergeblich versucht, mit Gregor, mittlerweile Student, eine "normale" Beziehung zu führen; und 3. an Katarina, der absoluten Traumfrau aus Stuttgart, die es mit dem ewigen Studenten und "Schriftsteller" (er arbeite an einem "Weiberroman", sagt er) immerhin fast fünf Jahre (von 1984 bis 1989) aushält.

Der Weiberroman schildert den Mann als das schwache Geschlecht, der das Rätsel der Frau in vielfältiger Form erfährt, ohne dabei wesentlich klüger bzw. reifer zu werden. Die politischen und kulturellen Ereignisse jener Jahre, von der Olympiade 1972 in München über den Deutschen Herbst 1977 bis zum Fall der Mauer 1989, bilden die historische Folie, vor der die Privathandlung des Weiberromans entfaltet wird. Die Daten der Zeitgeschichte fungieren zugleich als Prüfstein für die Genauigkeit, Glaubwürdigkeit und Relevanz der erzählten Geschichte – interessanterweise nicht nur für die Textfiktion selbst, sondern auch in der – größtenteils enthusiastischen – Rezeption des Weiberromans: Der Autor, Jahrgang 1955, habe mit dem Weiberroman den Roman seiner Generation geschrieben. Doch er ist mehr als das.

Vom Großteil der deutschsprachigen Erzählliteratur unterscheidet sich dieser Roman vor allem durch seine Komik. Kein mürrisches Parlando, keine mühsam ziselierte Kunstprosa beherrschen den Ton, sondern Witz, Ironie und schiefere Bedeutung. Polityckis Roman ist dabei nicht glatt heruntererzählt, sondern dynamisch: er wechselt die Tempi, tritt auch mal auf der Stelle, wiederholt sich, kurz: entwickelt sich und entspricht damit der Perspektive seines unglücklichen Helden Gregor, der auch noch nicht fertig ist mit sich und der Welt und nicht weiß, wie er sich in ihr bewegen soll. Gregors Wahrnehmung ist ein ständiger Prozeß des (langsamen, sehr langsamen) Begreifens, des Suchens, des Ruderns nach Worten, Begriffen, Bildern, Vergleichen. Dieser Vorgang der Wahrnehmung und Verarbeitung von Erkenntnisschritten wird durch retardierende Momente immer wieder verzögert, und der Leser würde seinem Helden am liebsten zurufen: >Greif doch zu! Sie will es doch haben!< Aber zugleich weiß er, der Leser, in der Regel jedenfalls, daß es ihm nicht anders ergangen ist, daß er dieselben Liebesqualen erleiden mußte, daß er sich selber auch nicht "erklären" konnte, daß er seine Liebesbekenntnisse vor sich herschob, bis es zu spät war damit. Wenn der geneigte Leser diesen letztlich ja selbst empfundenen, selbst erlittenen und erlebten Roman hinter sich gebracht hat, mit all den manieristischen Um- und Abwegen, grotesken Irrläufen und Mißverständnissen, den überhöhten Einsätzen im Liebesspiel, dann kommt er – vielleicht – mit Politycki zu der erlösenden Auffassung, daß Mann und Frau auf Dauer nicht füreinander geschaffen sind, daß sie auf Dauer nicht zusammenpassen, sich auf Dauer nicht verstehen, auf Dauer in der unerfüllten Liebe am glücklichsten sind.

Doch ebenso wichtig wie die Inhaltsebene ist die formale Gestalt des Weiberromans. Die manierierte (Tania würde sagen: "marinierte"), an den großen Erzähler Ernst Augustin erinnernde Erzählweise, ist zum Teil motiviert durch die Manuskriptfiktion, die Polityckis Roman zugrunde liegt. Dieser Fiktion zufolge hat ein Schul- und Studienfreund Gregors, ein gewisser Eckart "Ecki" Beinhofer den Roman aus einem Konvolut von 3.481 handschriftlichen Notizen destilliert. Beinhofer, mithin Gregors "Eckermann", fungiert zugleich als einer der "Herausgeber" dieses historisch-kritischen Liebesromans. Er will viele Passagen völlig umgeschrieben und "gelungene Konjekturen" am Originalmanuskript angebracht haben. Mit ihm streitet sich eine zweite, erst im Anhang des Romans auftretende Herausgeberfigur, ein gewisser M[atthias] P[olitycki], und setzt sich sogleich – angeblich mit Genehmigung des Verlags – in die eigentliche Urheberschaft ein. Dieses Verwirrspiel um die Autorschaft ist ein beliebter Topos (spätestens) seit der Goethezeit; eines der herausragenden Beispiele ist die von Arno Schmidt geliebte Novelle Ludwig Tiecks, Das alte Buch und die Reise in΄s Blaue hinein (1835). Natürlich muß man bei einem (fingierten) Zettelkastenroman wie diesem auch an Schmidt selber denken, und vielleicht auch an den "Zettelkosmos" Ingomar von Kieseritzkys (Das Buch der Desaster, 1988). Zwar hat Gregor keinen "Frauenplan" (wie Kieseritzkys Romanfigur Maurice Goff), aber auch er neigt dazu, die Welt zu katalogisieren, diverse Listen anzulegen, um die Realität zu erfassen. Seine Éducation erotique verläuft – wie bei allen aufgeführten Autoren – komisch. Aber diese Komik darf nicht als blöde Lustigkeit oder gar als Lächerlichmachen von Entwicklungsprozessen und von Zeitgeschichte mißverstanden werden. Polityckis Komik bringt Dynamik in den Katalog menschlicher Gefühlsäußerungen, durch sie erst wird die "sentimentale Lebensreise" möglich, die es erlaubt, Innerlichkeit, Selbsterfahrung, Identitätserkundung wieder darzustellen, ohne in den abgeschmackten Gefühlssermon der 70er-Jahre-Literatur zurückzufallen.

Dieser Autor treibt auch ein lustvolles Spiel mit Sprache. Viele rhetorische Figuren kommen zum Einsatz: Oxymoron ("entsetzt beglückter Unterkörper"), Chiasmus ("immer perfekt auszusehen, perfekt zu sein, immer"), Gleichlauf und Rhythmus ("draußen lachte wer, lärmte wer, ging wer vorbei"), Anaphora/Parallelismus (gern zu Beginn der "Fragmente"), sowie vieles, was ich zwar sehe, aber gar nicht bezeichnen kann. Zudem ist der Weiberroman ein gebildeter, anspielungsreicher Zeitroman mit einer reichhaltigen, geradezu lustvoll durchgeführten Leitmotivik (vgl. die aufsteigende Linie der Leberflecke von Katarina). Unzählige Alltagspartikel, Lifestyleaccessoires, Oberflächenattribute (Kleidungsverhalten, Musikgeschmack etc.) entfalten sich zu einer kulturellen Semantik der alten Bundesrepublik – vom Ende der 60er bis zum Ende der 80er Jahre. Bei einem anderen Autor aus Polityckis Altersklasse, aus Anlaß von Ralf Rothmanns Stier und Wäldernacht, hat die Kritik von "Generationsromanen" gesprochen. Hier, bei Politycki jedoch, scheint mir die Kollektivsymbolik die Ränder der – neuerdings diskutierten – 1978er-Generation auf beiden Seiten zu überlappen: Politycki macht Identifikationsangebote für mehr als nur eine Generation. Besser auch als Rothmann ist es ihm gelungen, unsere kulturelle Identität bei aller Oberflächenvarianz – den verschiedenen sozialen Milieus und ihren ästhetischen Präferenzen – zu erfassen. Viel mehr kann von einem deutschen Roman nicht verlangt werden.

LUTZ HAGESTEDT

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