Glückhafte ErkenntnisPeter von Matt über Dichter und GedichteSeit vielen Jahren kämpft der Schriftsteller Uwe Timm einen einsamen Kampf gegen die – vielleicht sehr deutsche – Mentalität der Kritik, überall Verbotsschilder aufzustellen: Von Adornos Verdikt, wonach es "barbarisch" sei, "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben", bis hin zu der These, daß "ein Roman von mehr als dreihundert Seiten [...] heute nicht mehr möglich" sei, wird von dieser Verbotsästhetik so ziemlich alles abgedeckt, was Lesern Freude macht – einschließlich der Liebesgeschichten, die "vergnügt aufhören". Nun bekommt Uwe Timm unverhofft Schützenhilfe. Mit seinem neuen Buch "Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte" argumentiert der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt gegen die "Unmöglichkeitsdiagnosen" unserer Zeit an. Es geht ihm dabei in erster Linie um das Gedicht, das – im Gegensatz zu anderen Gattungen – mit einem moralischen Verdikt belegt wird: "Das Gedicht, so die unreflektierte Annahme, hat Luxuscharakter und betreibt Weltverklärung." Dieser Vorwurf ans Gedicht war einmal, zumindest der Theorie nach, die Bestimmung der Poesie. In den einflußreichen idealistischen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts war die Darstellung des Schönen (des ›Poetischen‹) Sache der Poesie, während das Häßliche (das ›Prosaische‹) allenfalls in der Prosa seinen Ort finden konnte. Tempi passati, sollte man meinen, doch noch heute wird der Lyrik unterstellt, daß sie schön sein wolle, werden ihr Luxus und Lüge angedichtet, wird behauptet, daß die Prosa ehrlicher sei. Dagegen hilft nur eines: lesen lernen. Peter von Matts Vorschule der Ästhetik, seine Sammlung von Essays, von großen und "kleinen Deutungen" (letztere aus der "Frankfurter Anthologie"), richtet sich an alle, die gern lesen, viel lesen, intensiv lesen und sich ihre Wißbegierde bewahrt haben. Und über Peter von Matt läßt sich sagen, was dieser über Hans Magnus Enzensberger sagt: Seine Texte sind denkerisches Ereignis, sie vereinigen schöpferische Beweglichkeit mit konzentrierter Verbildlichung und schreckhafte mit glückhafter Erkenntnis. Waren wir bisher unentschieden, ob es von Ulla Hahn gute Gedichte gebe? Wie selbstverständlich und richtig erscheint uns Peter von Matts Antwort. Fragen wir uns noch immer, worauf die "monumentale Position Goethes" in seiner Epoche beruht, und können wir etwas anfangen mit dem einzigen Reim in Paul Celans "Todesfuge"? Nein, jetzt nicht mehr, und ja, wir können: Peter von Matts Interpretationen sind Offenbarungen – sie machen die Texte nicht kaputt, sondern lassen sie leuchten. Es ist ein Gewinn, ihnen zu folgen, selbst da, wo "die poetische Routine [...] grausig der Routine des Ermordens" entspricht, wo wir über die Kühnheit der Dichter erschrecken. Lutz Hagestedt Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1998. 340 Seiten, 45 Mark. |