Roger McGough: TIGERTRÄUME (Lutz Hagestedt) - Das komische Erzählgedicht, in der deutschen Gegenwartslyrik seltener anzutreffen, hat im Englischen eine ungebrochene Tradition. Hier wie dort erzielt es Verkaufswerte, die weit über die Enzensbergersche Konstante hinausgehen. Hier wie dort hat diese Lyrik eine Nähe zum diskursiven Text. Beispiele ließen sich bei der Neuen Frankfurter Schule oder - in England - bei den legendären Liverpool Poets finden. Ihr bekanntester Vertreter ist Roger McGough (* 1935 Liverpool), ein scharfer Analytiker unserer Alltagskultur, ein gewitzter und witziger Performer tradierter lyrischer Sprechweisen: HÄTTE-ICH-DOCHS William Blake sagte zu den Trauernden Auch William Shakespeare In seiner schwärzesten Stunde [...] Leonardo, Mozart, Rembrandt Eines der wenigen Gedichte in Edward Lears Nonsense-Tradition, wo das Korsett von Reim und Prosodie durch eine anarchisch-abgedrehte Reihung verpaßter Möglichkeiten ad absurdum geführt wird. "Big Ifs" (so der engl. Titel) ist zugleich ein Beispiel gelungener Übersetzung: Andrea Paluch und Robert Habeck halten sich genau an den Wortlaut des Originals und finden zu einer deutschen Fassung, die Wohlklang und Rhythmus zur Übereinstimmung bringt. Ihr Herzautor McGough ist freilich nicht nur auf Komik (oder Nonsense) aus, wenn er sich am formalen Repertoire orientiert. Sein Buch "Tigerträume" changiert zwischen der Aneignung und der Befreiung von tradierten Topoi: RÜCKRAN UND SCHLAFJETZT es ist danach Auch wenn er hier von "Dunkelheit", von "darkness" spricht, ist der Text nicht eigentlich dunkel. Er arbeitet mit einer klaren Leserichtung und Perspektive, aber die Bilder und Vergleiche ("als Sonne", "als Vögel") sind fremd und vertraut zugleich. Es gelingt McGough, individuelle Geschichten aus einer elementaren, scheinbar >verbrauchten< Bildlichkeit abzuleiten. Auf der Basis einer beinahe nur assoziierten Märchen- und Mythenmatrix ereignen sich so moderne Geschichten: Zwischen Wäscheschrank und Damenklo (und Sexkapaden sowieso), im Linienbus (aus Zuckerguß), am Stadtrand (vor der Reklamewand) oder wie ein aufgegeilter Staubsauger mit Zauberlehrlingsattitüde. Wortwitz (ein Verletzter wartet auf die "Somnambulanz") und Bildwitz ("ein Sturm im Weihwasserbecken") machen die Texte hell und schnell. Inger Christensen: Ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde. (Lutz Hagestedt) - Das eigentümlichste Phänomen der Lyrik Inger Christensens (*1935 Vejle/Jütland) ist ihre spezifische Sprachmelodie, ihre Vortragskunst, ihr Singsang, ist die Litanei ihres berühmten "Alphabets", dessen Strophen sich in exponentieller Folge aufbauen zu einem Strom der Beispiele und Bekenntnisse, der Bilderbögen und Bildersprünge. Wenn das Wort vom >Gesang<, von der Ballade, vom Canto, vom Epos noch irgendwo Sinn macht, dann hier, in dieser nicht mehr >übersetzbaren<, nicht mehr >hintergehbaren< Direktheit von Sprache - einer Muttersprache der Poesie. Das Problem dieser Lyrik ist daher die gedruckte Form, die Übersetzung, das Buch: Cikorie heißt Wegwarte, aber Hototogisu ist keine Nachtigall. Es entspricht ihr das Ohr und nicht das Auge, der Vortrag, vielleicht das Hörbuch und - im Idealfall - das absolute Gehör des Lesers, die innere Stimme der Anverwandlung: Die Tauben gibt es; die Träumer, die Puppen
Lutz Hagestedt * in Goslar, lebt in Frankfurt/Main. Studium der Germanistik . Promotion (Dr. phil.). Veröffentlichungen u.a. "Gernhardts Interpretationskunst", Text + Kritik, Göttingen (1997). "Das Genieproblem bei E.T.A. Hoffmann", Belleville, München (1998). |