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    Roger McGough: TIGERTRÄUME
    GEDICHTE. Zweisprachig.
    Mit einer Einleitung von Peter Hühn.
    Aus dem Englischen von Andrea Paluch und Robert Habeck.
    Mattes Verlag, Heidelberg 1997.
    230 Seiten, 22,80 DM.
    ISBN 3-930978-32-6

(Lutz Hagestedt) - Das komische Erzählgedicht, in der deutschen Gegenwartslyrik seltener anzutreffen, hat im Englischen eine ungebrochene Tradition. Hier wie dort erzielt es Verkaufswerte, die weit über die Enzensbergersche Konstante hinausgehen. Hier wie dort hat diese Lyrik eine Nähe zum diskursiven Text. Beispiele ließen sich bei der Neuen Frankfurter Schule oder - in England - bei den legendären Liverpool Poets finden. Ihr bekanntester Vertreter ist Roger McGough (* 1935 Liverpool), ein scharfer Analytiker unserer Alltagskultur, ein gewitzter und witziger Performer tradierter lyrischer Sprechweisen:

    HÄTTE-ICH-DOCHS

    William Blake sagte zu den Trauernden
    Am Totenbett in seiner letzten Nacht:
    "Hätte ich mir doch die Zeit genommen
    Und ein Schauspiel zu Papier gebracht."

    Auch William Shakespeare
    War am Ende unzufrieden:
    "Ich weiß, es steckt ein Roman in mir."
    (Gesagt, verschieden.)

    In seiner schwärzesten Stunde
    Fluchte Beethoven, schimpfte und klagte:
    "Hätte ich doch gelernt, Gitarre zu spielen
    Bevor mein Gehör versagte."

    [...] Leonardo, Mozart, Rembrandt
    Gingen schluchzend durch die Himmelspforten:
    "Hätte ich doch...
    Wäre ich einer der Großen geworden."

Eines der wenigen Gedichte in Edward Lears Nonsense-Tradition, wo das Korsett von Reim und Prosodie durch eine anarchisch-abgedrehte Reihung verpaßter Möglichkeiten ad absurdum geführt wird. "Big Ifs" (so der engl. Titel) ist zugleich ein Beispiel gelungener Übersetzung: Andrea Paluch und Robert Habeck halten sich genau an den Wortlaut des Originals und finden zu einer deutschen Fassung, die Wohlklang und Rhythmus zur Übereinstimmung bringt. Ihr Herzautor McGough ist freilich nicht nur auf Komik (oder Nonsense) aus, wenn er sich am formalen Repertoire orientiert. Sein Buch "Tigerträume" changiert zwischen der Aneignung und der Befreiung von tradierten Topoi:

    RÜCKRAN UND SCHLAFJETZT

    es ist danach
    und du sprichst auf zehenspitzen
    glücklich teil
    der dunkelheit zu sein
    lippen werden träge
    ein vorspiel der müdigkeit.
    Rückran und Schlafjetzt
    denn am morgen
    wenn ein polizist
    als sonne verkleidet
    ins zimmer schleicht
    und deine mutter
    als vögel verkleidet
    von den bäumen ruft
    wirst du ein kleid von schuld
    und schuhe mit zerbrochenen hohen idealen anziehen
    den kaffee ablehnen
    und denganzenweg
    nach hause
    laufen.

Auch wenn er hier von "Dunkelheit", von "darkness" spricht, ist der Text nicht eigentlich dunkel. Er arbeitet mit einer klaren Leserichtung und Perspektive, aber die Bilder und Vergleiche ("als Sonne", "als Vögel") sind fremd und vertraut zugleich. Es gelingt McGough, individuelle Geschichten aus einer elementaren, scheinbar >verbrauchten< Bildlichkeit abzuleiten. Auf der Basis einer beinahe nur assoziierten Märchen- und Mythenmatrix ereignen sich so moderne Geschichten: Zwischen Wäscheschrank und Damenklo (und Sexkapaden sowieso), im Linienbus (aus Zuckerguß), am Stadtrand (vor der Reklamewand) oder wie ein aufgegeilter Staubsauger mit Zauberlehrlingsattitüde. Wortwitz (ein Verletzter wartet auf die "Somnambulanz") und Bildwitz ("ein Sturm im Weihwasserbecken") machen die Texte hell und schnell.

    Inger Christensen: Ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde.
    Auswahl ohne Anfang und Ende
    Herausgegeben von Peter Waterhouse
    Aus dem Dänischen von Hanns Grössel
    Residenz Verlag, 1997, 176 Seiten,
    DM 40,80 / öS 298
    ISBN 3-7017-1042-2

(Lutz Hagestedt) - Das eigentümlichste Phänomen der Lyrik Inger Christensens (*1935 Vejle/Jütland) ist ihre spezifische Sprachmelodie, ihre Vortragskunst, ihr Singsang, ist die Litanei ihres berühmten "Alphabets", dessen Strophen sich in exponentieller Folge aufbauen zu einem Strom der Beispiele und Bekenntnisse, der Bilderbögen und Bildersprünge. Wenn das Wort vom >Gesang<, von der Ballade, vom Canto, vom Epos noch irgendwo Sinn macht, dann hier, in dieser nicht mehr >übersetzbaren<, nicht mehr >hintergehbaren< Direktheit von Sprache - einer Muttersprache der Poesie. Das Problem dieser Lyrik ist daher die gedruckte Form, die Übersetzung, das Buch: Cikorie heißt Wegwarte, aber Hototogisu ist keine Nachtigall. Es entspricht ihr das Ohr und nicht das Auge, der Vortrag, vielleicht das Hörbuch und - im Idealfall - das absolute Gehör des Lesers, die innere Stimme der Anverwandlung:

    Die Tauben gibt es; die Träumer, die Puppen
    die Töter gibt es; die Tauben, die Tauben;
    Dunst, Dioxin und die Tage, die Tage
    gibt es; die Tage den Tod; und die Gedichte
    gibt es; die Gedichte, die Tage, den Tod.

 

Lutz Hagestedt

* in Goslar, lebt in Frankfurt/Main. Studium der Germanistik . Promotion (Dr. phil.). Veröffentlichungen u.a. "Gernhardts Interpretationskunst", Text + Kritik, Göttingen (1997). "Das Genieproblem bei E.T.A. Hoffmann", Belleville, München (1998).

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