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Aus dem blauen Notizbuch

Gert Lotschütz erzählt von Nähe und Abstand zum Biographischen

GERT LOSCHÜTZ: Unterwegs zu den Geschichten. Verlag der Autoren, Frankfurt/M. 1998. 206 Seiten, 32 Mark.

In jüngster Zeit wird wieder häufiger von der Wiederkehr des autobiogra-phischen Erzählens gesprochen. Aber Theorie und Kritik sind nicht auf der Höhe der Praxis, wenn sie – um ihre These zu untermauern – Texte zusammenstellen, die nicht zusammengehören. Wenn sie den klassischen Typ des original-protokollhaften Lebensberichts (Beispiel: Günter Kunerts "Erwachsenenspiele", 1997), den aus den Quellen und Dokumenten geschöpften Erinnerungstext, mit dem autobiographischen Roman zusammen eintopfen, wie ihn etwa Ludwig Harig im Auftakt seiner Trilogie ("Ordnung ist das ganze Leben", 1986) entworfen hat. Beide Formen gab und gibt es immer. Der moderne Typ, der einzige, der momentan spürbar Konjunktur hat, ist ein Sonderfall: Matthias Politycki ("Weiberroman", 1997), Hans-Ulrich Treichel ("Der Verlorene", 1997) und nun auch Gert Loschütz haben ihn quasi neu erfunden.

Gert Loschütz erzählt in seinem Buch "Unterwegs zu den Geschichten" von Stationen der eigenen Biographie. So scheint es. Denn `autobiographisch´ ist in erster Linie der Gestus dieser Prosa. Sie beginnt mit Kindheitslektüren ("Quer durchs Mistbeet"), erzählt von der früh geübten "Pose des Lesens", von Begleitern, "die mir wichtig sind" und die sich "räumlich zuordnen" lassen, von Büchern als biographischen Stationen.

Das zweite Kapitel erzählt von nächtlichen Fahrten, von Fluchtbewegungen aus der Enge des Dorfes und der "Enge des Herzens". Es folgen Texte "Aus dem blauen Notizbuch": Da fährt der Ich-Erzähler in einem Doppelstockbus durch ein apokalyptisches Bild, erlebt – kurz vor Berlin – einen Sandsturm, der sprachlos macht und das "Gefühl einer ganz neuen Gefährdung" auslöst. Eine seltsam fremde, seltsam vertraute Welt.

Unheimlich und leise rollt eine der Perlen dieses Buches heran: bleierne Zeit, Mai 1970, Berlin nach der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders aus der Haft. Der Erzähler und seine Freundin kriegen Besuch. Die Wohnung haben sie nur bekommen, weil sie versprochen haben, zu heiraten, und jetzt beherbergen sie ausgerechnet Terroristen: "Eine der drei Frauen [...] kannten wir, wenn auch nur flüchtig. (Sie war es, wegen der wir uns bereit erklärt hatten, auch die beiden anderen aufzunehmen.) In diesen Tagen leuchtete ihr Gesicht von jeder Litfaßsäule, von jedem Post- und Bankschalter, ja, sogar noch an den Straßenbäumen hingen die Fahndungsplakate mit ihrem Madonnengesicht". Unschwer zu erkennen – diese Frau ist Ulrike Meinhof. Ihr galt die erste steckbriefliche Fahndung in Berlin nach 1945. Aber sie und ihre Begleiterinnen (darunter wohl Gudrun Ensslin) verhalten sich nicht so, als hätten sie Angst vor Entdeckung: Betrunken oder bekifft lärmen sie im Treppenhaus, eine von ihnen entblößt ihre Brüste vor dem Spion der Nachbarwohnung.

Protzige Gebärden verstörter Frauen. Besonders die Madonnengesichtige leidet: Mit ihren Artikeln hatte die Journalistin den beiden anderen "die Augen für die Ungerechtigkeit der Welt geöffnet [...]. Plötzlich war sie an die beiden gefesselt. Es war ein beinahe demütiger Ton, den sie ihnen gegenüber anschlug; sie unterwarf sich ihnen, [...] die jetzt wie ein Schatten an ihr klebten, darüber wachend, daß sie nicht wortbrüchig wurde."

Mit wenigen Strichen hat Gert Loschütz die paranoide Situation eingefangen, in der die RAF bis zu ihrer Auflösung existieren wird. In einer stillen Komik der Verzweiflung erzählt er vom deutschen Terror und der schwersten innenpolitischen Krise nach ´45. Ein Blick zurück – und die Geschichte ist auch schon Geschichte, reiht sich ein, ohne einen besonderen Auftritt zu beanspruchen. Unmerklich rutschen die nächsten Perlen dieses Rosariums heran, etwas Vorgeschichte wird nachgereicht, die Flucht aus der DDR im April 1957, die Trennung der Eltern, beider Verschwinden, die zweite Ehe des Vaters mit einer paranoiden Frau, sein plötzlicher Herztod, die Zeit als Burgschreiber irgendwo im Südosten der `Beitrittsländer´: "Tagelang liegt auf dem Tisch eine Karte der Umgebung. Die Orte, die ich mit dem Bleistift eingekreist habe, heißen Friedland, Kunersdorf, Kummerow und Buckow. Aber es ist nicht das Kunersdorf der Schlacht bei Kunersdorf, so wenig wie es das Buckow der Buckower Elegien ist oder das Kummerow der Heiden von Kummerow. Und auch Friedland ist nicht das Friedland des Herzogs von Friedland oder das der Durchgangslager". Es sind andere Stationen, in der Realität wie in der Literatur. "Unterwegs zu den Geschichten" ist auch der Versuch, etwas zu zeigen, was sich eigentlich nicht zeigen läßt: Das Prozeßhafte des Schreibens, nicht den abgeschlossenen "Prozeß"; die Arbeit des Schriftstellers, nicht das Ergebnis seiner Arbeit. Denn was offenbar werden soll, sind nicht die Erinnerungsbilder, sondern die Gesetze und Funktionsweisen des Genres, die Richtung und die Perspektive, die ein Text nehmen muß, um als biographisches Substrat gelesen zu werden. Es sei jedoch ein Irrtum, betont Loschütz in einem theoretischen Exkurs ("Die Nähe und der Abstand"), daß Literatur "durch die Biographie des Autors" beglaubigt werden könne.

Somit ist es eine Strategie, die dargestellte Welt als Blickfeld des Autors, als Ausprägung seiner Person erscheinen zu lassen. Das Autobiographische ist ein Gestus und ein Postulat, nicht mehr und nicht weniger. Autoren wie Gert Loschütz, Hans-Ulrich Treichel oder Matthias Politycki führen das, so unterschiedlich ihre jüngsten Prosaarbeiten auch sein mögen, gemeinsam vor und insistieren zugleich auf dem Paradigmatischen ihres Erzählens. Bei Loschütz etwa blitzen laufend Signalwörter im "Fiesta"-Stil auf: Design Depot, Familienzentrum, Feierabendheim, Goldankauf – Bestpreise, Waschsalon Gisela, Wohnungsfurcht usw. Diese Hemingway-Assoziation ergibt sich – vielleicht unbeabsichtigt – aus der Signalkraft authentischer Namen und Sachen. Aber ihr Erscheinen in literarischen Texten beantwortet "die Frage nach der Authentizität" des Erzählten in keiner Weise – weil diese Frage sich nicht beantworten läßt. Von Bedeutung ist allein "das richtige Verhältnis von Nähe und Abstand zum Erzählten". Zu große Nähe kann Kitsch, zu großer Abstand Sprödigkeit bedeuten. Gert Loschütz gelingt es, dieses "richtige Verhältnis" für jede Erzählung neu zu bestimmen. Auf aparte Weise orientiert er sich an Lebensbildern, Lebensstationen, die die eigenen sein könnten – des Autors wie des Lesers. Vertrauen zu und Vertrautheit mit diesem Schriftsteller und seinen Geschichten stellen sich ein.

LUTZ HAGESTEDT

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