Zurück   Zur Startseite

Im Dienst der Geschichte

Günter Kunert erzählt aus seinem Leben

Biografien und Autobiografien rangieren in den Hitlisten der Leser ganz oben. Um zu gewährleisten, daß daß sie gut und flott geschrieben sind, haben die erfolgsorientierten Verlage die Institution des Co-Autors erfunden: "Elvis and Me" by Priscilla Beaulieu Presley – as told to Sandra Harmon. Professionelle Schreiber, Journalisten, Verlagslektoren, freie Publizisten stellen ihre geübte Feder in den Dienst einer mehr oder weniger spektakulären Lebensgeschichte.

Auch der unlängst untergegangene Spitzel- und Denunziantenstaat DDR leistet vielen seiner ehemaligen Bürger wertvolle biografische Hilfestellung: Durch die persönliche Akte, die, über Jahre gewissenhaft und lückenlos geführt, das observierte Leben der staatsfeindlichen Kräfte dokumentiert. Doch vielfach sind die Stasi-Akten in ihrer kleinkrämerischen Detailwut und peinlichen Blockwartmentalität alles andere als "gut und flott geschrieben". Den Schriftsteller Günter Kunert, der in der DDR als Zyniker galt, hat dies nicht angefochten, in seiner Autobiographie "Erwachsenenspiele" ausführlich und genüßlich aus den Protokollen der Stasi-Schatten und Informellen Piesacker zu zitieren. Und so geschickt tut er dies, daß aus der kruden Observantenprosa plötzlich große Literatur ensteht. Der Dichter stellt hier seine geübte Feder in den Dienst der Geschichte, und dabei entsteht eine neue Variante der sog. "Faction"-Literatur, deren Ziel es ist, der Wirklichkeit nahe zu treten, ohne auf den Zauber der Dichtung verzichten zu müssen.

Der erste Teil dieser Autobiographie könnte mit einem Titel von Eichendorff überschrieben sein: Aus dem Leben eines Taugenichts. Günter Kunert, 1929 in Berlin geboren und dort aufgewachsen, schildert hier die vergeblichen Bemühungen seiner Familie, ihn zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen. Die Schule besucht er kaum, die angefangene Lehre schmeißt er sofort wieder hin, stattdessen treibt er sich in den Berliner Lichtspielhäusern herum oder beschafft sich verbotene Literatur im Antiquariat Wiese. "Dem Lesenden versinkt die Gegenwart", während um ihn herum die Stadt in Schutt und Asche fällt. Als Kind einer "Mischehe" ist er vor den Deportationen sicher, solange er sich nichts zuschulden kommen läßt und solange der "arische" Vater lebt.

Gleich nach Ende des Krieges mausert er sich zum "Agitator" und entwickelt ein "sozialistisches Bewußtsein". Das Wort "Moskau" klingt wie eine Zauberformel in seinen Ohren und täuscht ihn lange über die repressive Realität des Ostblocksozialismus hinweg. In fast schon naiver Verkennung der realen Machtverhältnisse engagiert er sich im Schriftstellerverband für pluralistische und freie Meinungsäußerung und reibt sich an der politisch gegängelten Verbandsarbeit. Erst allmählich begreift er, daß ihm jede kreative Idee zu seinem Nachteil ausgelegt wird. Seiner Frau Marianne hat er es zu verdanken, daß er nicht verzagt und sich nicht einschüchtern läßt.

Marianne Kunert ist die eigentliche Heldin der "Erwachsenenspiele". Ihr ist das Buch gewidmet, denn wie eine Löwin ihr Junges hat sie ihren Günter verteidigt. "Fürchte dich nicht", sprach sie, lauter und entschiedener, als jeder Gott es vermöchte. Sie ist das Rückgrat und - neben der "persönlichen Akte" – der zweite wichtige Gedächtnispfeiler dieser Erinnerungen. Als Augen- und Ohrenzeugin hat sie ihren Mann bei den Behördengängen, den Vernehmungen durch die "Staatsorgane", den Verhandlungen mit den Verlagen und dem Schriftstellerverband begleitet. Ihr Leben an der Seite Günter Kunerts liest sich wie ein Lehrstück in Sachen Zivilcourage.

Vieles wäre über dieses Buch zu sagen, das von prominenten Autoren der DDR ebenso wie von surrealistisch anmutenden Reisen in die Länder des Ostblocks erzählt und das zugleich als Stadtgeschichte Berlins im 20. Jahrhundert gelesen werden kann. Kunert wird Berlin, Schauplatz der Weimarer Republik, Reichshauptstadt, heiß umkämpfter Kriegsschauplatz, Trümmerstadt, Hauptstadt der DDR, geteilte Stadt, Zentrum der "Judenaktionen" und Pogrome, des Kalten Kriegs und der Staatlichen Überwachungssysteme, der Verfolgung, Verwüstung und Verwahrlosung, am 10. Oktober 1979 den Rücken kehren. Doch in Bildern trägt er sie mit sich. Eindrucksvoll beschreibt er etwa, wie 1945 mit der Stadt auch die Kanalisation untergeht und sich im strengen Winter der Jahre 1946/47 überall bräunliche und gelbliche Unratgletscher bilden: "Im Frühling 1947 sinkt die Civitas Berolinensis ins Mittelalter zurück. Die Fäkalienberge tauchen auf. Brauner, stinkender Schlamm, von Urinbächen durchzogen. Pesthauch steigt aus der Kanalisation. Achtsam schlurfen Anrainer durch das Gemenge ihrer eigenen und der nachbarlichen Ausscheidungen."

Kunerts Erinnerungen sind fast durchweg im Präsens beziehungsweise in den "Tempora der besprochenen Welt" erzählt. In ihren kurzen, knappen Sätzen liegt eine große Spannung. Der kühle, eindringliche, ja lapidare Gestus läßt uns umso mehr staunen und erschaudern – daß dies alles möglich war im 20. Jahrhundert.

Lutz Hagestedt

Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1997. 448 Seiten, 49,80 Mark.

Zurück   Zur Startseite