Momente der SelbstbegegnungErnst Jüngers Tagebuch und BriefwechselMan hat nicht oft Gelegenheit, hundertjährigen Schriftstellern bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Ernst Jünger (*1895) ist einer dieser ganz raren Fälle, und wer zu den wenigen Verbliebenen gehört, die Jüngers mittlerweile 75jährige Autorschaft von Anfang an mitverfolgt haben, der wird sich denken: "Anders liest der Knabe Terenz, anders der Greis." Und in der Tat hat sich hier ein fast lateinisch klarer Altersstil herausgebildet, der sich dem Leser so sehr einprägt, daß er selber schon in jüngerschen Sentenzen zu denken beginnt. An dieser langen Autorschaft kann man auch sehr gut nachvollziehen, wie sich aus der fluiden Intelligenz des jungen Jünger die kristalline des alten herausgebildet hat. Ganz analog muß es auch der Autor selbst erfahren haben. Seine Tagebücher sind für ihn ein Medium der Selbstbegegnung, und noch im hohen Alter klären sich unverhofft Dinge, die zum Teil in die Zeit der Weltkriege zurückführen. Dokumente und – kaum zu glauben – Zeitzeugen tauchen auf, längst verloren geglaubte Spuren erscheinen so frisch als wie am ersten Tag. Ernst Jünger hat einmal gesagt, er habe "nur in gefährlichen Zeiten" Tagebuch geführt: "Und als ich dann siebzig wurde, da dachte ich, na ja, jetzt kommen also von alten Freunden doch immer wieder Verlustnachrichten, eine gefährliche Zeit, da könnte man ja wieder anfangen." Mittlerweile ist der fünfte Band von "Siebzig verweht" erschienen, er führt vom Januar 1991 bis zum Dezember 1995. Auch dieses Tagebuch ist ein Beispiel für jene charakteristische Prosamischform, die Jünger für seine persönlichen, aber zur Publikation bestimmten Aufzeichnungen entwickelt hat: Es enthält neben den Eintragungen "von Tag zu Tag" auch Traumprotokolle, Exzerpte aus der Briefpost, Reflexionen über die "Todeslinie", an der sich der Autor entlangbewegt, kleine essayistische Digressionen, Reden und Ansprachen, die er zu festlichen Gelegenheiten gehalten hat. Zu den Fundstücken aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zählt ein Dokument, das Jünger darüber Auskunft gibt, weshalb man sich mit seiner Entlassung aus der Wehrmacht im Oktober 1944 so beeilt hat: "Warum aber das, und in solcher Eile dazu? Wollte man mich unbedingt loswerden, hätte eine Kommandierung an die Ostfront genügt. Der Brief erklärte mir nun [Generalfeldmarschall] Keitels Eifer – er hatte Angst vor einem unmittelbar gegen mich bevorstehenden Prozeß und wollte sich und die Armee aus der Affäre heraushalten." Ein anderes aufschlußreiches Dokument ist Jüngers Begegnung mit Louis-Ferdinand Celine, die ihm der Schriftsteller Helmut Krausser entlockt hat. Celine war Jünger suspekt, und er hat ihn in seinem Tagebuch "Strahlungen" (1949) abschätzig portraitiert. Auch die Träume sind ein Instrument der Selbstbegegnung. So trifft Jünger im "Zwischenreich" auf das frühere Ich in seinem Umgang mit längst Verstorbenen – ein bizarrer, hundertjähriger Spiegel. Häufig sind die nächtlichen Besucher liebe Freunde, wie der Gärtner der Familie, dessen letzter Brief dreißig Jahre zurückliegt. Es kommen aber auch unangenehme Gäste wie Hitler zu Besuch. Liegt es daran, daß "ein tiefer Schlaf dem Tode am nächsten" ist, wie Johann Georg Hamann sagt, einer der Hausgötter des Autors? Ein drittes Beispiel der Selbstbegegnung ist der ebenfalls erschienene Briefwechsel Ernst Jüngers mit dem Maler Rudolf Schlichter (1890 – 1955). Jünger mochte die akribisch-filigrane, gegenständliche Malkunst Schlichters, und er hatte zeitlebens vor, eine Monographie über ihn zu schreiben. Sie liegt jetzt, in anderer Form, mit diesem vorzüglich edierten Briefband vor. Eine gemeinsame Leidenschaft von Maler und Autor waren die "Geschichten aus tausendundeiner Nacht". Ein Bild, das Jünger in seinem Werk immer wieder zitiert hat, zuletzt in seinem Roman "Eumeswil" (1977), ist das Märchen von Emir Musa und der Messingstadt. In diesem "tiefen Geist" sieht Jünger die "Konfrontation von Lebenspracht und Tod" veranschaulicht. Hält man Schlichters Tuschfederzeichnungen daneben, so erscheint diese Inspirationsquelle von Jüngers Werk in ganz neuem Licht. Lutz Hagestedt Ernst Jünger: Siebzig verweht V. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart. 204 Seiten, Fr. 39,60. Ernst Jünger / Rudolf Schlichter: Briefwechsel. Hrsg. von Dirk Heißerer. Klett-Cotta, Stuttgart. 608 Seiten, Fr. 53,80. |