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Und ich trank unverzüglich

Zwei Neuausgaben von Wenedikt Jerofejews komischem Roman "Die Reise nach Petuschki"

"Die erste Ausgabe von >Moskau – Petuschki< war schnell vergriffen, zumal nur ein Exemplar davon vorhanden war. [...] In meinem Vorwort zur ersten Ausgabe habe ich alle Mädchen darauf hingewiesen, daß sie das Kapitel >Hammer-und-Sichel – Karatscharowo< schleunigst überblättern sollen, weil auf den Satz >Und ich trank unverzüglich< anderthalb Seiten reinster Obszönitäten folgen, von denen kein einziges Wort die Zensur überstanden hätte, mit Ausnahme des Satzes >Und ich trank unverzüglich<."

Wenedikt Jerofejews Roman "Die Reise nach Petuschki" wird gern als Säuferroman bezeichnet. Das ist nicht abwegig, trifft die Sache aber bestenfalls zur Hälfte: Der Ich-Erzähler, zärtlich Wenitschka genannt, will am Freitag von Moskau ins zwei Stunden entfernte Petuschki fahren, wo ihn seine Geliebte und sein Kind erwarten. "Nach Petuschki" aber, heißt es gegen Ende des Romans, "kommt überhaupt keiner": Petuschki ist ein Phantasma, ein Traum vom vollkommenen irdischen Glück, ein unerreichbares Ideal. Denn bedauerlicherweise bilden Alkoholismus, Trostlosigkeit und das ZK der KPdSU den Horizont der Realität. Wenedikt Jerofejews Meisterwerk schildert eine versoffene Erzählergesellschaft, die sich in Ersatzwelten flüchten muß: Natürlich in die "metaphysische" Welt des Spiritus, in die halb komischen, halb entsetzlichen Wahnwelten, die aus raffinierten Cocktails nach dem "Braunbär"-Rezept (100 Gramm Brennspiritus, 200 Gramm dunkles Bier, 100 Gramm gereinigte Politur) gebraut werden. Eine Ersatzwelt ist auch die Welt der Kunst und Literatur. "Die Reise nach Petuschki" (deren Originaltitel "Moskva – Petuški" die Anspielung auf A. N. Radišcevs Reiseroman besser deutlich macht) ist ein `gebildetes´ Buch: Bibelzitate, Heiligenlegenden, Gogols "Die toten Seelen" und andere Hauptwerke der Weltliteratur werden hier gleich kübelweise vergoren, veredelt und hinuntergespült. Gleichwohl bleibt Jerofejews Werk nüchtern, grazil, kurzweilig – und von trockenem Witz.

"Moskva – Petuški" hat eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte. "Bei der Telefonkabelverlegung in Scheremetjewo" im Herbst 1969 geschrieben, kam das Manuskript im Samisdat nach Israel, wo es 1973 in der Zeitschrift Ami veröffentlicht wurde. 1977 erschien es in Paris, 1978 im Münchner Piper-Verlag. Die kleine Auflage von 3.000 Exemplaren brauchte einige Jahre, bis sie vergriffen war, die Neuausgabe vom März 1987 aber ging immerhin ins 15. Tausend. In die russischen Buchhandlungen kam das "genuin östliche [...] Meisterwerk" (Robert Gernhardt) erst 1988 – da war es bereits ein internationaler Steadyseller geworden. Kurz vor Jerofejews Tod im Oktober 1990 interessierten sich dann plötzlich Verleger und Medienvertreter für den alkohol- und krebskranken Autor. Aber nicht das "große Geschäft" (über dessen anstößige Verrichtung hier wunderbar erzählt wird), sondern der bescheidene Einsatz weniger Leser und echter Fans dürften Autor und Werk durchgesetzt haben. Heute ist "Moskva – Petuški" ein Klassiker, wie die Neuausgabe aus Anlaß des 60. Geburtstages von Wenedikt Jerofejew belegt, die als Band 1290 in der Bibliothek Suhrkamp erschienen ist.

Eine Empfehlung zur rechten Zeit, am rechten Ort auszusprechen – das ist nicht zuletzt eine Spezialität von Robert Gernhardt und Harry Rowohlt. Sie haben Anfang der 90er Jahre begonnen, Jerofejews kleinen Roman in öffenlichen Marathonlesungen vorzustellen. Mit Dieter Mues und Josef Bilous, in München und Hamburg, haben sie sich ganze Nächte um die Ohren gelesen. Vor freudetrunkenem Publikum. Man kann es hören, kann es spüren, wie sich die Begeisterung dieser großartigen Performance auf die Hörer übertrug. Die jetzt auf CD erschienene, knapp vier Stunden und 50 Minuten dauernde Einspielung wurde am 27. Januar im Literaturhaus Hamburg aufgezeichnet und von Bernd Pfarr wunderschön gestaltet. Es ist ein Gesamtkunstwerk geworden, ein Muß für jeden, der hören und lesen kann und der etwas für große Literatur, für Komik und für die Russen übrig hat. Man hat Jerofejew in die Tradition der großen Absurden gestellt, denn er läßt seine Protagonisten allerlei Kostproben psychotischer Angst, institutionalisierter Dummheit und staatlicher Willkür schlucken. Seine Komik ist wesentlich Schmerz, tief empfunden und geistvoll umgesetzt.

Lutz Hagestedt

Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki. Roman. Aus dem Russischen von Natascha Spitz. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main 1998. 182 Seiten. 22,80 DM.

ders./dass.: 4 CDs, gelesen von Harry Rowohlt, Robert Gernhardt und Josef Bilous. Kein & Aber Records bei Kunstmann. München 1998. 69 DM.

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