Deutsche Dichter lateinischer ZungeEine Edition [oder: Der Deutsche Klassiker Verlag] würdigt die Poesie der NeulateinerWilhelm Kühlmann, Robert Seidel, Hermann Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt/Main 1997. 1592 Seiten. 168 DM. In Leder 288 DM. Die Literatur, schreibt Michael Krüger in seinem programmatischen Gedicht "Reginapoly" (1976), habe vieles "verlernt, verloren, vergessen". Anderes, so zeigt ein Blick auf die deutsche Nachkriegslyrik, ist durch eine "allherschende Verbotsästhetik" (Gustav Seibt) fast vollständig eliminiert worden. Zu dem, was diese Lyrik verlernt, verloren und vergessen hat – Michael Krügers Dichtung ist ein Beispiel dafür – gehört das tradierte Repertoire der Vers- und Formenlehre: Genus, Metrum, Prosodie, Reim, Rhythmik, Strophenform und Gattungstradition. Mit dem Traditions- ist auch das Spielbewußtsein der Gattung verlorengegangen – entfesselte Barbarei hat gutes Handwerk verdrängt. Eine Edition deutscher Dichter lateinischer Zunge zeigt uns, was da verlorenging. Die Neulateiner waren hochgebildet und ließen sich von dem Ehrgeiz leiten, in einen Dialog mit den antiken Klassikern einzutreten, indem sie deren Formenrepertoire, die Motivtradition und Ästhetik adaptierten und transformierten. Im Rückgriff auf Altbewährtes und Erprobtes entfalteten sie ihre poetische Kraft und Originalität. Der vorliegende Band ist ein Querschnitt humanistisch-lateinischer Dichtung deutscher Autoren des 16. Jahrhunderts. Er ist zugleich eine Wirkungsgeschichte und ein Handbuch wichtiger bio-bibliographischer Angaben. Der Themen- und Formenkreis der lateinischen Humanisten umfaßt in der Hauptsache biblische Motive, das Gotteslob, Fragen der christlichen Anthropologie, Fragen konfessioneller, moralischer und politischer Natur, aber auch Liebesdichtung, naturkundliche Themen, Erbauungsschriften, Passionsgeschichten in sinnlicher Vergegenwärtigung, und selbst autobiographische Bekenntnisse. An der Spätantike, vor allem der altchristlichen Hymnentradition, haben sich etwa Johannes Stigelius (1515 – 1562) und Georg Fabricius (1516 – 1571) orientiert. In teils aggressiver Form brachte Stigelius Invektiven gegen Vertreter der römischen Kirche vor und geißelte menschliche Hybris, Machtmißbrauch und moralischen Verfall. Ist es noch Vertrauen in die Macht der Sprache oder bereits Ironie, wenn es bei ihm heißt: "Weiche, Fieber, oder mit beißenden Waffen wird sogleich ein scharfer Jambus zur Stelle sein". Vor allem ist es ein Bildungszitat, denn Jambenbücher wurden durch Horaz in die römische Literatur eingeführt, und Bildungszitate – von Vergil-Anklängen, Anleihen bei Lukrez, Ovid, Sallust, Tibull –, sowie tradierte Topoi (bevorzugt aus dem Fundus der römischen Liebesdichtung) gehören zum festen Inventar dieser Dichtung. Vielfach herrscht das Vorurteil, die Neulateiner erschöpften sich in eingeübten Fertigkeiten und spulten fad den immergleichen Faden ab. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Dichtungstradition, gerade das enge Korsett der Formengesetze, entfesselt die Originalität dieser Autoren. Oder auch nicht – denn die humanistischen Lyriker des 16. Jahrhunderts fesseln uns nicht alle gleichermaßen. Aber die formale Vergleichbarkeit macht sehr schön sichtbar, wo die braven Anwender und wo die originellen Erneuerer zu finden sind. Johannes Stigelius zum Beispiel ist eher ein braver Mann, und was der Kommentar dieser Edition als Darstellung privater Krisen interpretiert (Fieber, psychische Gefährdungen), ist doch vergleichsweise bildungsschwanger und allgemein genrebezogen, zu wenig "individuell", als daß man sich stark beeindrucken ließe. "Modern", im Sinne von "heute noch lesbar", sind die Autoren, die etwas von sich zu verraten scheinen, deren Individualität durch alle Regeln und Tropen, durch Kontrafaktur und Korsett hindurch spürbar ist. Und das sind bemerkenswert viele. Da ist zum Beispiel Johannes Posthius (1537 – 1598), der zum wiederholten Male eine Totgeburt zu beklagen hat – nicht ein Kind ist ihm aus seiner fruchtbaren Ehe geblieben. Eindrucksvoll schildert er auch die Fahrt über das Ligurische Meer und seine Todesangst: "Zweimal war bereits die Erde für meine Bestattung ausgehoben." Wie die Krieger unserer Tage beklagt Petrus Lotichius Secundus (1528 – 1560) den Soldatenstand: Ein reeller Kampf Mann gegen Mann sei nicht mehr möglich, seit eherne Geschütze weithin fliegende, eiserne Kugeln verschössen, "von schweflichtem Feuer getrieben". Kriegsbeute sei von trügerischem Wert, und die Musen würden einen weitaus besseren Lohn versprechen, nämlich dauerhafte Ehre und die Aussicht, das Leben "süßen Studien widmen" zu dürfen. Wunderbar ist auch Paul Schede Melissus (1539 – 1602), dessen Verse sich wie Momentaufnahmen aus deutscher Gegenwart, zwischen Bahnhof Zoo und Frankfurter Zeil, lesen lassen: "Soll doch diese Gegend reich an Dirnen, jene an Strichjungen sein, die Vergnügen finden an Diebereien, jene an Straßenraub." Mit großem Vergnügen verfolgt man die laszive Huldigung von Melissus an die britische Königin Elisabeth I. ("Ad Elisabetham Reginam Angliae"), die er ihr 1585 vermutlich eigenhändig überreichen konnte. Eine pindarische Ode, in der er die "jungfräuliche Fürstin" mit derselben Inbrunst besingt wie seine fiktive Geliebte Rosina. Von Zweckfreiheit der Kunst ist hier keine Rede: Melissus erhoffte sich eine Sinecure als Hofdichter, und Elisabeth, die über eine "feine Kenntnis der Sprachen" verfügte, antwortete ihrem fränkischen Galan – keineswegs befremdet – in lateinischer Rede. Ach, was ein bißchen Bildung doch ausmachen kann: Als Novalis 200 Jahre später die beiden preußischen Knallchargen Luise von Mecklenburg-Strelitz und Wilhelm III. anläßlich der Inthronisation besang ("Glauben und Liebe"), erntete er nur Unverständnis und Ignoranz. Die humanistischen Autoren wissen natürlich, daß sie sich in einer großen Dichtungstradition bewegen. Die Liebeslyrik des Conrad Celtis etwa verwendet Bilder des Hohelieds, Motive der römischen Liebeselegie, referiert auf Petrarca, Landino, Catull und Horaz. Gleichzeitig sehen sich die Neulateiner als Pioniere: Er habe als erster, schreibt Konrad Celtis (1459 – 1508) in seinem "Buch der Epoden", die klassische Dichtung der Griechen und Römer auf das "Kulturreich" der Deutschen übertragen. Mit besonders glücklichem Ergebnis. Seine Huldigungslieder und erotischen Verse eröffnen den Band, und das "Lebensprogramm" des Poeta laureatus war es, die kulturelle Hegemonie des italienischen Humanismus zu überwinden. Celtis wollte seiner Zeit einen deutschen Horaz geben, kam aber zu der Einsicht, daß die Dichtungstradition in seiner Muttersprache noch nicht die nötige Reife erlangt habe. Die Neulateiner litten nicht an "Einflußangst". Sie verstanden den Traditionsbezug als wesentliche Voraussetzung ihrer Kreativität. Für jeden Gebildeten erkennbar übernahmen sie tradierte Formen und versuchten, darin zu glänzen – in bewußter Nachahmung und Kontrafaktur der poetischen Muster. Fast alles aber, was von den Alten her topisch ist und also in die eigenen Werke übernommen werden konnte, veränderte durch die Übernahme seine inhaltliche Ausrichtung. Der Kommentar des Bandes, 600 Seiten Stellenkommentar, Bio-Bibliographie, Register und Inhaltsverzeichnis, bereitet den Leser darauf vor. Er ist sehr konzentriert, vergleichsweise fast schmal ausgefallen. Aber er tut not, und er zeigt auf, wie lesenswert, wie bedeutsam, wie brisant diese Texte heute noch sind. Wahrhaft großartig sind die erotischen Elegien des Simon Lemnius (1511 – 1550), die diese Rezension ausklingen lassen: Sie beschreiben "wohlgeformte Mädchenglieder", Schenkel und Brüste, das Liebeslager, die Zungenküsse und den "steifen Schwanz" des Erzählers: "Cunnus erat purus, tumidusque libidine dudum, / Sic oculis stabas ipsa uidenda meis. [...] / Firmior arboribus mihi stabat in inguine neruus, / Extensusque utero fulminat ille caput." ("Säuberlich war deine Muschel, eben schon von Lust geschwellt – so standest du da vor meinen Blicken, herrlich anzuschauen. [...] Fester als ein Baum stand mir der Schwanz in den Lenden, und nach dem Schoße hingestreckt schleuderte er Blitze von seinem Haupt.") Lutz Hagestedt |