Zurück   Zur Startseite

Lyrik am Jahrhundertende

Harald Hartungs schöne Anthologie mit gelegentlichen Durchhängern

HARALD HARTUNG (Hg.): Jahrhundertgedächtnis. Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert. Reclam Verlag, Stuttgart 1998. 470 Seiten, 32,80 Mark.

Das Jahrhundert nähert sich seinem Ende, es ist Zeit, Bilanz zu ziehen: Was bleibt von der deutschen Lyrik im 20. Jahrhundert? Als Herausgeber vereinigt Harald Hartung drei Qualitäten: die des Lyrikers, die des Kritikers und die des Wissenschaftlers. Seine Auswahl, so steht zu vermuten, vereinigt den Lyrik-Enthusiasten mit dem Kenner und dem Philologen. In dieser Dreieinigkeit hat er die besten Voraussetzungen, den – für die erste Hälfte des Jahrhunderts relativ gefestigten – Kanon plausibel auszuwerten und – für die zweite Hälfte des Jahrhunderts – an einem solchen Kanon mitzuwirken.

Welches sind seine Vorstellungen, seine Kriterien? Wie ist, gemessen an ihnen, seine Anthologie ausgefallen, wie kritisiert man überhaupt eine Auswahl, die – wie jede Anthologie – notwendig begrenzt und notwendig lückenhaft ausgefallen ist? Nicht schön ist es, sich Namen einfallen zu lassen, die leider draußen bleiben mußten, denn sie mußten es vielleicht aus gutem Grund. Noch weniger schön ist es, einzelne Gedichte zu vermissen, "Lyrikhammer" oder "Evergreens" (Robert Gernhardt), von denen dann zu behaupten wäre, daß sie in keiner Anthologie fehlen dürften. Solche Kritik hat noch niemanden überzeugt, außer vielleicht die Autoren, die dadurch doch noch ins Gespräch gekommen sind.

Ein schöner Reibungspunkt ist jedoch eine andere Anthologie, auf die Hartung in seinem Nachwort explizit und implizit referiert: die 1995 von Jörg Drews herausgegebene Blütenlese "Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945 – 1995". Aus dem Vergleich mit ihr lassen sich Erkenntnisse ziehen.

Wie der Untertitel schon sagt, beschränkt sich Drews in seiner Auswahl auf die Nachkriegszeit, während Hartung sogar vor der Wende zum 20. Jahrhundert einsetzt und einige Texte von Beer-Hofmann, Dehmel, George, Hofmannsthal, Holz, Lasker-Schüler, Nietzsche und Rilke berücksichtigt. Hartung argumentiert völlig zurecht, daß Daten der Zeitgeschichte in der Literatur nicht zwingend Zäsuren setzen müssen: Nicht nur die Frage, wann Gedichte geschrieben bzw. publiziert werden, ist relevant, sondern auch die Frage, wann ihre wichtigste Rezeptionszeit anzusetzen ist. Und deshalb ist es sehr überzeugend, Autoren aufzunehmen, deren Texte für das Formengedächtnis des 20. Jahrhunderts wichtig sind, aber dem vorigen Jahrhundert entstammen. Die Autoren und Gedichte, die Hartung da mit einbezieht, haben alle eine katalysatorische Wirkung gehabt, Strömungen indiziert oder neue Standards gesetzt – der Herausgeber bewegt sich mit seiner geschickten Einebnung der Jahrhundertschwelle auf sicherem Terrain.

Spannender wird es jedoch dort, wo der Kanon erst noch "gefunden" werden muß, in der Lyrik der letzten vierzig bis fünfzig Jahre. Vergleicht man die drei Abschnitte, die Hartung der Nachkriegsdichtung und den Zeitgenossen einräumt, insgesamt 140 Textseiten, davon circa 60 Seiten "Nachkrieg und kalter Krieg", 55 Seiten "Zwischen Mauer und Mauerfall", 25 Seiten "Offener Schluß – Am Ende des Jahrhunderts", dann hat er gegenüber Drews (mit circa 220 Textseiten) deutlich weniger Platz – und kommt doch offenbar gut damit aus. Hartung verzichtet etwa auf folgende Autoren des Drews-Kanons: Achleitner, Czernin, Drawert, Heißenbüttel, Mon, Papenfuß, Priessnitz, Rühm, Schuldt, Wolf, Wühr und Zürn. Dafür hat er Drews andere Autoren "voraus": Aichinger, Bächler, Jürgen Becker, Biermann, Borchers, Braun, Domin, Fried, Fritz, Haufs, Jentzsch, Kunert, Kunze, Lenz, Malkowski, Friederike Roth, Söllner, Treichel. Bei Drews ist also ein formal innovativer Schwerpunkt "Neue Poesie" gesetzt, bei Hartung eher ein Schwerpunkt "repräsentative Dichtung". Repräsentativ in dem Sinne, daß das Gedicht etwas zum kollektiven Gedächtnis beitragen soll. Dabei ist nicht an Texte gedacht, die Ereignisgeschichte nachbeten, wohl aber an Seismographen, die nicht "in die Defensive" geraten, wenn "die Geschichte dominiert".

Hartung gliedert sein "lyrisches Material [...] historisch [...] nach Epochenabschnitten", wobei es ihm nicht darum geht, die Texte algorhythmisch in ihrer Publikationsfolge abzuarbeiten. Es geht ihm um die Frage, was ein Korpus für den Einzeltext leistet, wenn es dessen historisch gegliederte semantische Umgebung bildet. Das kann in der Tat höchst spannend sein – oder auch nicht. Es gibt kürzere Strecken oder Abfolgen von Einzeltexten in dieser Anthologie, da funktioniert das nur sehr eingeschränkt: Karin Kiwus΄ "Citizen Kane", Dieter Leisegangs "Traum" und "Einsam und allein", Michael Krügers "Eine alte Geschichte I", in dieser Reihenfolge gelesen, in der sie stehen – und man hat Sprachmaterial ohne jeden Anflug "historischer" Tiefendimension. Alle Texte erfüllen zwar Hartungs Kriterium der formalen Geschlossenheit, aber im gemeinsamen Auftritt ergeben sie den Eindruck des Austauschbaren und Beliebigen. Hartung hat schon auch recht: Das ist genau das "Konzert von Stimmen", das zwischen der Mitte der siebziger und der Mitte der achtziger Jahre angestimmt wurde. Besser eingefügt hätte sich hier jedoch ein Poem des ehemaligen DDR-Lyrikers Kurt Drawert ("Gedicht, als Brief angekommen, 15.7.1981"). In Drews΄ Anthologie ist es zu finden, nicht aber bei Hartung, obwohl es "Zwischen Mauer und Mauerfall" einen kräftigen Akzent hätte setzen können.

Andere Teilstränge dieser Anthologie funktionieren hingegen wunderbar: Thomas Klings "Stempel Griebnitzsee 2" – Klaus Hensels "Altes Balg" – Uwe Kolbes "Hineingeboren" – Durs Grünbeins "O Heimat, zynischer Euphon" ergeben genau jenes "historische" Relief, das Hartung sich erhofft. Vergleichbar geschickt angelegt sind etwa auch die Längsachsen von Günter Kunert ("Über einige Davongekommene") über Peter Rühmkorf ("Der diese Lake soff") und Hans Magnus Enzensberger ("Wortbildungslehre") bis hin zu Konrad Bayer ("schöne welt") – sie bilden einen Kontext mit zwar toposhaft versetzbaren, aber nicht beliebig austauschbaren Gedichten. Insgesamt also ist dies ein Buch, das Vergnügen bereitet, auch dezidiert komischen Texten nicht ausweicht – und sich den einen oder anderen Durchhänger leisten kann.

LUTZ HAGESTEDT

Zurück   Zur Startseite