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Die Welt ist alles, was der Fall ist

Ernst Wilhelm Händlers Roman aus Corporate World

Es gibt Schriftsteller wie Franz Kafka, die eine ganze Kultur geprägt haben. Thomas Bernhard hat mit seiner Rhetorik der Wiederholung und Übertreibung einen ganzen Schwarm von Autoren in seinen Bann gezogen. Ein Bernhard-Epigone ist sicherlich der 1993 verstorbene Gert Hofmann. Autoren wie er orientieren sich an großen Vorbildern, studieren sie genau, lehnen sich an, schöpfen Kraft, erwerben sich Fähigkeiten. Sie zeigen, woher sie kommen - und machen dann doch etwas ganz und gar Eigenständiges.

Der neue Roman des Schriftstellers Ernst Wilhelm Händler, genannt "Fall", lehnt sich stilistisch und inhaltlich eng an große Erzählwerke unserer Zeit an. Selbstbewußt tritt er in die Stapfen der Großen – und geht mit ihnen seinen eigenen Weg. Bis in die Figurenkonstellation, die Raumsemantik, die Erzählsituation hinein orientiert er sich vor allem an zwei Romanen: An Thomas Bernhards "Auslöschung" und an Gert Hofmanns "Auf dem Turm". Beide Texte und ihre dargestellten Welten bilden das Ausgangs- und Spielmaterial von Händlers Roman.

Gegeben ist eine Hauptfigur, Georg Voigtländer, seit dem Tod seines Vaters Geschäftsführer eines Familienbetriebs. Der Familienbetrieb soll aus wirtschaftlichen und rechtlichen Erwägungen in eine andere Gesellschaftsform umgewandelt werden. Der "Geschäftswelt", die ganz originär auf Händler zurückgehen dürfte, steht eine künstlerisch-literarische Welt gegenüber, und zwar dergestalt, daß Voigtländer mit den Figuren aus Bernhards und Hofmanns Romanen gesellschaftlich verkehrt. Auf seinen Geschäftsreisen nach Italien begegnet Voigtländer Gambetti, Spadolini und Murau (aus Bernhards "Auslöschung"), sowie einem Schriftsteller-Ehepaar (entliehen aus Hofmanns Roman "Auf dem Turm", dann einigen Transformationen unterworfen). Händler sagt es nicht ganz explizit, daß er diese Figuren aus anderen literarischen Werken abgeleitet und ihnen hier ein gleichfalls literarisches Weiterleben beschert hat. Aber er hat vielfältige und deutliche Spuren ausgelegt, die aufmerksamen Lesern nicht verborgen bleiben dürften, und er hat sich, zumindest was Bernhard betrifft, auf einen in unserer Kultur kanonischen Text bezogen, so daß er davon ausgehen kann, daß sein Spiel mit Fremdtexten erkannt wird. Auf einen weiteren wichtigen Referenztext, der nicht so bekannt sein dürfte, auf Paul Wührs "Das falsche Buch", hat er sogar explizit hingewiesen – dieser Roman hat aber einen anderen Status für Händlers Fiktion, insofern die Akteure des "Falschen Buchs" bei Händler selbst keine Rolle spielen. Es ist ein "Strategiespiel" aus dem "Falschen Buch", das hier eine tragende Funktion bekommt.

Händlers Roman heißt "Fall": Das ist einmal im Wittgensteinschen Sinne (von dem auch das Motto des Romans stammt) zu verstehen: "Die Welt ist alles, was der Fall ist", gleichgültig, ob es eine literarisch präfigurierte oder "reale" Welt ist (auch in der Literatur ist diese Unterscheidung keineswegs obsolet). "Fall" ist wörtlich und metaphorisch zu verstehen: Gert Hofmann erzählt in seinem Roman "Auf dem Turm" die Geschichte eines tödlichen Sprungs in die Tiefe. Voigtländer erlebt seinen Sturz in der Hierarchie der eigenen Firma. Auch als Schriftsteller erlebt Voigtländer ein Desaster: Sein Verleger Franz Greno aus Nördlingen ist mit seinem anspruchvollen Programm zu Fall gekommen und muß Konkurs anmelden. Voigtländers Roman, obwohl schon ausgedruckt, kann nicht erscheinen.

Für genau dieses Fallen aus großer Höhe, für dieses Abstürzen in den

wörtlichen oder metaphorischen Tod braucht Händler "Das falsche Buch". Paul Wühr, so hat Händler in einem Gespräch mit dem DeutschlandRadio ("Studio LCB") gesagt, sei ein Autor, dessen Methode es sei, "an den Sachen zu drehen". Im "Todesversteckspiel" des "Falschen Buchs" läßt Paul Wühr seine Figuren in eine Art "Überlebensturm" einziehen. Die aus Gert Hofmanns Roman bekannte tödliche Fallhöhe wird hier durch ständiges "Umdrehen" des Turms neutralisiert. Das Innere des Turms, das Innere des Romans schlechthin, erscheint plötzlich dem Weltmodell des Demokrit vergleichbar, in dem die Atome durch den leeren, endlosen Raum fallen, aber ständig ihre Fallrichtung ändern – und damit auch ihre Intention.

Kein Zweifel, es ist riskant, was Händler hier versucht: Ein virtuoses Palimpsest auf der Basis von Einzeltexten und literarischen und philosophischen Diskursen ("Kafka" und "Wittgenstein" scheinen immer präsent zu sein) zu entwerfen. Aber es ist auch legitim: Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks muß es erlaubt sein, das originale Werk zu verändern und zu erweitern. Dadurch geht es ja nicht verloren, sondern wir besitzen es weiterhin plus einer Variante von ihm: Zwei Kunstwerke, die wiederum reproduziert werden können, die nebeneinander existieren, die aufeinander verweisen und sich gegenseitig interpretieren. Händler ist auch nicht der erste Autor, der das wagt: Jean Améry etwa publizierte 1978 seinen Romanessay "Charles Bovary, Landarzt", in dem er Flauberts Charakterstudie dieses "einfachen Mannes" korrigierte.

In ähnlicher Weise verändert Händlers >Roman aus Romanen< ständig sein Ausgangsmaterial, zum Beispiel die Fabel der "Auslöschung": Der Privatgelehrte Murau aus Bernhards Roman schenkt das ererbte Landgut Wolfsegg nicht der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, wie von Thomas Bernhard beschrieben, sondern er spielt das Todesversteckspielregelspiel – er vermacht es Georg Voigtländer und entzieht es ihm wieder.

Noch Fragen? Nach allem, was man jetzt über Händlers Roman weiß, und es ist wenig genug, wird man sich vielleicht des Eindrucks nicht erwehren können, es handle sich bei "Fall" nur um bloße >Literaturliteratur<. Etwas für Eingeweihte. Dem ist nicht so. Aber Händlers Buch scheint mir wie kein anderes dazu geeignet zu sein, unser Leseverhalten und die Bedingungen des Marktes auf die Probe zu stellen. Denn er fordert uns in einer Weise, die – ganz bewußt – gegen die Mechanismen des Literaturbetriebs arbeitet. Zum einen fordert sein Roman, zumindest vom seriösen Kritiker, auch die Referenztexte zu lesen bzw. erneut zu lesen. Denn niemand dürfte Bernhards "Auslöschung" und Hofmanns "Auf dem Turm" oder gar Paul Wührs "Todesversteckspielregelspiel" so parat haben, daß er sofort bestimmen könnte, wie Händler mit diesen Texten arbeitet. Händler also stellt die Rezeption seines Buches unter die Postulate der Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit und – Langsamkeit. Dieses Buch stellt sich damit quer zum Literaturbetrieb, der Bücher eigentlich nur noch dann durchsetzen kann, wenn sie sich von Werbung und Kritik schnell, griffig und plakativ verschlagworten lassen. Erfolg bei der Kritik und ökonomischer Erfolg von Literatur ist denn auch ein wichtiges Thema von Händlers Roman. Wie bereits angesprochen hat Georg Voigtländer, der Kaufmann, der den größten Teil seines privaten Lebens in einer Literaturwelt verbringt, einen Roman geschrieben, der bei Greno erscheinen soll. Voigtländer muß mitansehen, wie Greno zwar als Märchenprinz von den Medien gefeiert wird, zur gleichen Zeit aber ökonomisch scheitert. Auch Voigtländer scheitert im ökonomischen Raum, weil er sich nicht an die Spielregeln der "Corporate world" hält, sondern zusehr den Regeln der Literaturwelt unterworfen bleibt.

Letztlich sind es die ästhetischen Qualitäten, die überzeugen müssen. Händler stellt uns in "Fall" die harte Geschäftswelt dar, den versteckt und verbissen geführten Machtkampf innerhalb einer Firma, die Zynismen, die den modernen Consultingbereich dominieren, und er überträgt die strategischen Trockenübungen und operativen Planspiele aus den Chefetagen dieser Welt auf die allgemein erfahrbare Lebenswelt seiner Figuren. Und das ist, so kühl-distanziert und ausgeklügelt diese Übertragung hier quasi durchdekliniert wird, eine ungeheuer spannende Leseerfahrung. Über die Machtkämpfe in der Firma erfährt der Leser vor allem aus Sitzungs- und Gedächtnisprotokollen, Geschäftsbriefen und dergleichen – aber diese diplomatischen und genau abgezirkelten, geregelten Redeformen vibrieren unterschwellig so stark, daß man sich ihrer Spannung nicht entziehen kann. Hier erfährt der Leser geradezu körperlich, wie präzise Händler jedes Wort zu setzen weiß. Atemlos, ohne einschreiten zu können, muß der Leser mitansehen, wie Voigtländer den Boden unter den Füßen verliert. Voigtländer hat einmal ein Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger, der bedauert, daß es in der deutschen Literatur "keine sachkundigen Erzählungen oder Romane über die Innenwelt des Buisiness" gebe. Doch hier, bei Händler, haben wir eine signifikante Ausnahme, hier haben wir genau diesen gnadenlosen und brutalen Blick "von oben", den Enzensberger so schmerzlich vermißt hat. Und so ist dieses Buch zweifellos eine Bereicherung: Es tritt anspruchsvoll an uns heran, fordert uns einiges ab – aber es entschädigt für alle Mühen.

LUTZ HAGESTEDT

    ERNST WILHELM HÄNDLER: "Fall. Roman".
    Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1997.
    412 Seiten, 44 Mark.

 

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