Anstrengend und angestrengtDurs Grünbein läßt die Lyrik hinter sichViele Autoren der letzten Jahre haben ein neues Verhältnis zur gebundenen Rede gewonnen, und wenn nicht zu Reim und Metrum, so doch zu anderen Ordnungsprinzipien. Mit dabei ist Durs Grünbein mit seinem neuesten Band. "Nach den Satiren" heißt einer der Zyklen, aus denen dieser Band besteht, vier lange Gedichte, die sich teilweise wie ein Frontbericht aus dem zeitgenössischen Straßenkrieg lesen. Ein "urbaner Wiedergänger" des Juvenal berichtet von Gewalt und Laster, an seinen "Schläfen / Fängt sich ein Luftstrom aus alten Städten", die vor 2.000 Jahren dasselbe Bild geboten haben mögen. Graffiti, oder soll man sagen: Menetekel, fragen nach dem Bösen, "Leben kommt und geht im Affekt", aktuell wie eine Tageszeitung berichtet ein Poem von "ungeheuren Verbrechen": "Wer riskiert jetzt zu helfen, wenn ein Verletzter halbtot / Nach einem Überfall sich durch Glasscherben schleppt." Das zweite lange Gedicht des Zyklus ist als ein Selbstgespräch konzipiert, ein noch junges Leben zieht vor dem geistigen Auge vorüber, Kleinkinderszenen steigen herauf, Gerangel der Körper im jugendlichen Spiel, die Zeit in der NVA ("beschlagnahmt zum Nichtstun"), doch am Ende wird, im letzten Wort, der eigentliche Adressat der Rede sichtbar, Orest, und die biographische Lesart erweist sich als ungenügend. Wie eine Kippfigur schlägt der Text um, wie ein doppelt belichteter Film muß das gesamte Szenarium erneut entrollt und interpretiert werden, verschiedene Zeitstufen und ihre Überlagerungen werden in einem Bild konzentriert sichtbar. In der Literaturkritik werden die neuen Texte Durs Grünbeins als Lyrik wahrgenommen. Der Band "Nach den Satiren", der ohne Untertitel auskommt, gibt jedoch Anlaß, die Gattungsfrage zu stellen. Denn Lyrik ist per definitionem charakterisiert durch ›Kürze‹, ›Nicht-Narrativität‹, ›strukturell einfache Versrede‹, ›Sangbarkeit‹, ›Absolutheit des lyrischen Ichs‹, ›Abwesenheit agierender Figuren‹ usw. Hier jedoch haben wir es mit teils großräumigen Texten zu tun, die sich zu Zyklen und weiter in (Teil-)Bücher gruppieren. Die Zyklen heißen etwa "Von den Todesarten der Idioten" (fast schon penetrant Grünbeins Spießer-Kritik), "Kleinigkeiten nach Christus und Juvenalis", "Novembertage", "Heiner Müller, auf dann... Drei Blätter" usw. Es sind große, angestrengte und anstrengende Textkorpora, deren Einzeltexte ein Verbundsystem bilden, sich ergänzen und wechselseitig interpretieren. Auch zwischen den Zyklen verlaufen Verbindungsstränge, die eine zusätzliche Verdichtung des Textgewebes bewirken: die Zeitmetaphorik, die Städte- und Landschaftsbilder (Atlantis, Berlin, Hollywood, Palästina, Rom, Troja), die kosmologischen Entwürfe, die Metaphorik der Naturwissenschaften, die Nekrologe, die Vanitasbilder, die Serien der zur Schau gestellten Prunkzitate, die von den Klassikern der Antike bis zu den Weltbildentwürfen der Frühen Moderne (Freud, Darwin) reichen. Es scheint so, als habe der Lyriker Durs Grünbein die Lyrik hinter sich gelassen, um den autonomen lyrischen Einzeltext in einen syntagmatischen Kontext einzubetten, der auch Narrativität zuläßt, Geschichtserzählung, eine Totalität der dargestellten Welt, das Sittengemälde der Gegenwart vor dem Hintergrund römisch-antiker Dekadenzbilder. Für das immense kulturelle Wissen, das Grünbein hier einfließen läßt, ist jedenfalls eher die Prosa eingerichtet, der Prosa auch kommt traditionell die Darstellung des Häßlichen zu, wie sie in Grünbeins Band geradezu schwelgerisch gepflegt wird: Die Übelkeit nach der Völlerei, die grausame Ermordung der Rosa Luxemburg, die Schändung der Leiche des Heliogabal (eines der eindrucksvolleren Stücke), die Christenverfolgungen, Laster und Perversionen, Korruption, der Schmutz der Städte, die lange Reihe der Zynismen und Endzeitvisionen. Spricht er von Schönheit, dann "von der Schönheit der Hämatome". Durs Grünbein mutet sich und seinen Lesern viel zu. Sein Band zeigt die Begabungen, aber auch die Grenzen des Lyrikers. Bemerkenswert viele verschiedene Formen poetischer Rede werden hier ausprobiert, manche mit mehr, manche mit weniger Erfolg. Leicht und gelöst wirken die dialogischen Texte, die im Zwiegespräch die unterschiedliche Wahrnehmung der Welt thematisieren. Das Ich dissoziiert sich in "Er und Ich", zwei Perspektiven, die sich ein Leben lang begleiten, sich fremd und vertraut sind, hell der eine, zuversichtlich und geschwätzig wie in Horazens berühmter Satire, düster der andere, skeptisch, schweigsam, die Stimme des Gewissens, die Stimme des Dämons. Über weite Strecken gelungen ist auch das Briefgedicht von Julianus, im Winterlager am Rhein an den Freund in Rom geschrieben. So will es jedenfalls die Fiktion. Formal kommt Grünbein rasch an seine Grenzen, vieles wirkt überfrachtet, schwerfällig, seine Manierismen gehen auf Kosten syntaktischer Klarheit, wie der nachstehende Text über Rosa Luxemburg belegt: "Vulgäre Mäuler rissen sich um die Legende - / Jeanne d´Arc die Jüdin, die den Aufstand singt... / Ein böses Omen, eine Frau stirbt vor dem Ende / Der Dummheit, die ein schwerer Hunger bringt. / War ihre Art zu lieben der Skandal?" Syntaktisch heikel auch das folgende Bild: "Die letzte Jahreszeit, die er [scil. Heiner Müller] erlebte / Auf einer Erde, die nicht mehr erbebte / Vor frischen Massengräbern, jedes Jahr / Zehn neuen Kriegen." Oder: "Mit offnem Mund am Straßenrand ein Offizier / Stand wie verrenkt, weil kein Befehl mehr lenkte, / Das Machtwort ausblieb wie seit Jahren nie." Das ist, rundheraus gesagt, nicht schön. Zu streng gebaut, zu ehrgeizig wohl auch, es fehlt der Mut zur Inkonsequenz, die Mechanik des Versbaus geschickt zu unterlaufen. Beim Reim ist Grünbein deutlich freier: Er reimt, wo es sich anbietet, wo es sich ergibt, durchaus auch mit Erfolg, denn Reime tragen Witz, Lebendigkeit und einen Anflug von Behendigkeit hinein, die Schlußpointierung der Texte wirkt weniger störend. Neben dem reinen Reim werden klangliche Annäherungen gesucht, "Sündenfall" / "Skandal", "Zaun" / "Traum", der Eindruck von Gelöstheit aber dann durch manches textgrammatische Ungeschick wieder unwirksam. Der Versuch zur großen Form ist bemüht zwar und respektabel, aber doch voller Mängel und häufig steif und bieder. Lutz Hagestedt Durs Grünbein: Nach den Satiren. |