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Der Sturz ins Bodenlose

Eva Demskis überfrachtete Hochhausmetapher

Von Lutz Hagestedt

Das ist ja alles wie bei mir zuhause: Ein Hochhaus am ländlichen Saum der Großstadt, vierzehn Stockwerke hoch, eine bunte Gesellschaft, Eigentümer wie Mieter, Wessis wie Ossis, Gutsituierte wie Problemfälle, letztere vom Sozialamt hier eingemietet. So ein Haus ist ein Bild der Gesellschaft, mehr noch – der Welt. Es hat Tradition, Literatur räumlich darzubieten, denn das literarische Gedächtnis ist eine Topik, eine Raumkunst, planvoll und ökonomisch angelegt. Ein guter Erzähler geht wie ein Redner vor, der im Geiste einen jeden Raum seines gedanklichen Gebäudes abschreitet, der jedem Raum seine eigenen Bilder (phantasmata) zuordnet und mit jedem Bild eine besondere Geschichte verknüpft. Ein Hochhaus nun gar, welch ein Terrain! Welche Möglichkeiten, welche Gefahren! Keine Etage darf fehlen, weil sonst der Horror vacui droht, und mit ihm der Sturz ins Bodenlose.

Zum Hochhaus gehören die Clichés: Oben ist der Himmel, da wohnen, unsichtbar für die anderen, die Könige und Götter. Unten sind Keller, Hölle und Verlies. Zu Füßen des Hauses erzählt ein Sperrmüllberg von Bewohnern, die offensichtlich Wert darauf legen, möglichst häßliche Möbel zu besitzen, Reproduktionen der siebziger und achtziger Jahre. Reproduktionen? Nun ja, zugegeben, es sind Originale, zusammengestellt, um den Eindruck absoluter Mittelmäßigkeit zu erwecken. Für die Art deco- und Gründerzeitmöbel, die hier seltener auftreten, interessiert sich Lupo von Dienheim, Requisiteur von Beruf und freier Mitarbeiter des Fernsehens. Lupo ist der Ich-Erzähler des "Narrenhauses", und er erzählt seine Geschichte flott, wie es zunächst scheint. Lupo erzählt von den Leuten und von den Geschichten, die im Haus wohnen. Sie bilden einen Organismus, ein selbstreferentielles System – reinster Maturana. Ein Problem sind die, die einziehen, und die, die ausziehen. Eine massive Störung tritt auf, als die verkohlte Leiche einer Bewohnerin aufgefunden wird. Die Tote, Pauline Reiff, eine "Interimsfrau" des Erzählers, hat ihrem Ex-Mann eine gefährliche Erbschaft hinterlassen. Es handelt sich vor allem um das Mittelstück des sogenannten "Fliederbaumkabinetts", einer Miniatur-Galerie. Das mittelalterliche Kunstwerk soll unerhört wertvoll sein und "glücklich machen". Bald spricht das ganze Haus davon, alle wollen es haben, Lupo hat Mühe, es versteckt zu halten. Eine paranoide Situation.

Als Erzähler ist Lupo unsympathisch, weil schwatzhaft bis weit über die Schmerzgrenze hinaus. Was auf den ersten Blick als flotter Gestus erscheint, ist die durchgedrehte Rabulistik eines Zeitgenossen, für den die Welt ohne Rätsel ist und keine Überraschungen bereithält. Für alles gibt es einen Katalog aus Sprichwörtern, Unwörtern, Redensarten, aus Bildern, Clichés, Paradigmen, Stereotypen und Vergleichen, die bis zum Abwinken bemüht werden. Lupo ist ein Lumpensammler, der alle Fundstücke dieser Welt zur Charakterisierung seiner Sujets einsetzt – ob sie passen oder nicht, ob sie sich widersprechen oder nicht. Er hat im Grunde nichts zu sagen – aber er tut es bis zum Überdruß. Die junge Generation etwa hat die "Gnade des totalen Desinteresses" (Kohl läßt grüßen), der "Apfel fällt nicht weit vom anderen Apfel", man spricht "Gewandhaussächsisch" undsoweiter. Für alles und jedes hat Lupo einen redensartlichen Sermon und eine Vielzahl von Schablonen parat, nichts ist ihm fremd, nie ist er um eine Phrase verlegen. Die meisten seiner Metaphern gehörten in die Asservatenkammer – unter Verschluß. Fragen, die er nicht beantworten kann, sind für ihn nicht wirklich relevant: "Es ist halt so" oder "Man hat΄s halt geglaubt." Je mehr Stereotypen er bemüht, desto schwammiger und unpräziser wird seine Darstellung. Man verliert den Blick für das Wesentliche. Das ist, wenn ich auch einmal ein Bild bemühen darf, wie ein Motor, der in den Leerlauf schaltet: Die Attribute greifen nicht mehr, der ehemals flotte Drive kommt zum Stillstand, zum Erliegen.

Eva Demski, als die Quelle der Vergleiche, erliegt der Versuchung, alles ihr zur Verfügung stehende Material – und das ist beachtlich viel – auch verwenden zu müssen. Es wird eine Materialschlacht, in der die Figuren und ihre Geschichte überdeterminiert sind und in der die Spannung und die Ökonomie badengehen müssen. Es ist von allem zuviel da, und nirgendwo wäre eine eingedampfte Readers-Digest-Version angebrachter als hier, bei diesem überfrachteten Roman.

"Mein Leben lang", behauptet Caseur Lupo an einer Stelle, "ist es mir nicht schwergefallen, den Mund zu halten, wenn ich wollte." Ach, wenn er doch bloß einmal gewollt hätte. "Es reicht eben nicht, nichts zu sagen zu haben – man muß es auch nicht ausdrücken können." (Karl Kraus)

Eva Demski: Das Narrenhaus. Roman, Schöffling & Co., Frankfurt 1997, 448 Seiten, 45 DM.

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