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Franz Josef Czernin
natur-gedichte
Carl Hanser Verlag, 1996, 96 Seiten
DM 26,- / öS 193,- / sFr 24,90,-
Postfach 86 04 20, 81631 München)

(Lutz Hagestedt) - Im Unterschied zur Naturlyrik, die Fragen der Gattung, der Form, der Sprache hinter ein inhaltliches Postulat zurücktreten läßt, nämlich dem, hier werde das Erlebnis der Natur dargestellt, betont Czernin das Gleichgewicht - soll man noch althergebracht sagen?: - von Inhalt und Form schon im Titel: natur-gedichte.

SILHOUETTE

als ob es sich zu mir verdonnern würde!
alle wetter, selbst in dieser ferne
so erstaunlich leuchten,
dass es wird hoch gestiegen sein und zu manchem kopf!
[...]

"Jemanden zu etwas verdonnern" heißt normalsprachlich, ihn verurteilen. Die Wendung hat mit dem natürlichen Donner nicht (mehr) das geringste zu tun, niemand würde ihr ein Naturbild unterstellen, außer dem Dichter, der sich fragt, wie Sprache es eigentlich macht, aus einer begrenzten Menge von Lauten und Lexemen eine unbegrenzte Menge von sprachlichen Formen und Bildern zu erzeugen. Czernin entkleidet das "Verdonnern" seiner gängigen Bedeutung, indem er "es (virtuell) zu sich (her) verdonnern" läßt, indem er es im (hier nicht dargestellten) Textverlauf sukzessive mit anderen Lexemen umgibt (alle Wetter, Ferne, Blüten, Berge, Gipfel, Himmel usw.), die ihrerseits keinen Konnex zum semantischen "Natur"-Raum haben müssen, aber ihn durch den Kontext bekommen - bzw. zurückgewinnen: das "Verdonnern" gewinnt einen inhaltlichen Anflug von Natur hinzu, es wird inhaltlich bereichert, und der Text selber zeigt uns, wie er das macht, ohne theoretisch zu werden. Einen theoretisch-praktischen Analyseteil enthält dieser eindrucksvolle Band auch, der einige der zentralen Prinzipien oder Techniken der Czerninschen "natur-gedicht"-Genese beschreibt: wörtlichnehmen, übersetzen, entsprechen. Ein ungemein fruchtbarer Ansatz, von dem hier nur ein kleiner Aspekt dargestellt werden konnte.

Hagestedt, Lutz, *1960 in Goslar, lebt in Frankfurt/Main. Promotion 1994 (Dr. phil.). Pressesprecher des Suhrkamp Verlags 1994 bis 1996. Jüngste Publikation: "Ähnlichkeit und Differenz. Aspekte der Realitätskonzeption in Ludwig Tiecks Spätwerk", belleville verlag (1997).

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