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Herrn Wolfgang Werth
via facsimile (insgesamt 3 Seiten)

Alchimie der Wörter
Eine Herzenssache von Patrick Roth

PATRICK ROTH: Meine Reise zu Chaplin. Ein Encore. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997. 98 Seiten, 28 Mark.

Das neue Buch von Patrick Roth, "Meine Reise zu Chaplin", hat eine ausgefallene Gattungsbezeichnung: "Ein Encore", so lautet der Untertitel, und hätte ich raten sollen, was "Encore" bedeutet, so hätte ich gesagt: "Eine Liebeserklärung", "eine Ermunterung" oder einfach etwas, das "von Herzen" kommt: ein "en cœur". Ich hätte falsch gelegen, denn "Encore" ist einfach "Zugabe", und "Encore" heißt in Patrick Roths Erzählung ein Filmmuseum, ein Revival house, in dem ausschließlich alte Filme gezeigt werden.

Es ist ein Chaplin-Film, "City Lights", "Lichter der Großstadt", den Patrick Roth 1975 zum ersten Mal sieht, um dessentwillen dieses Buch erzählt ist. "City Lights" erzählt die Geschichte des Landstreichers, der für ein blindes Blumenmädchen eintritt, Geld für eine Augenoperation auftreibt und dafür ins Gefängnis kommt. Es ist die Geschichte eines Tramps, der es nach der Haftentlassung nicht wagt, seiner Herzensdame unter die Augen zu treten, als sie wieder sehen kann, weil er fürchtet, damit das Bild zu zerstören, das sie von ihm gewonnen haben muß. Durch eine Berührung bloß erkennt sie, wen sie da vor sich hat, durch eine Berührung bloß erkennt sie im heruntergekommenen Vagabunden ihren selbstlosen Retter. Berührung ist hier nicht bloß Randerscheinung, sondern Erkenntnis, und Erkenntnis ist – Liebe. Das, was ihre Hand spürt, triumphiert über das, was ihre Augen sehen. Der Augenmensch Charlie Chaplin relativiert hier das Sehen, spricht – in Bildern – von den Grenzen seines Mediums, dem Film. Seine Botschaft: "Das Augenfällige ist abzulehnen" ("the visual is deniable").

Das berührende Erkennen, die Schlüsselszene in Chaplins Film, deretwegen er "City Lights" überhaupt nur gedreht hat, findet nicht von ungefähr Patrick Roths Anteilnahme. Denn in seiner Christustrilogie ("Riverside", 1991; "Johnny Shines", 1993; "Corpus Christi", 1996) geht es ihm um genau dasselbe Ereignis der Berührung, die sensitive Sensation, die Erkenntnis stiftet. Am stärksten vielleicht in "Riverside", wo Diastasimos, der Aussätzige, Jesus am eigenen Leibe erfährt: "Auch jetzt: kein Wort, sondern er faßt mich an. So. [...] So, versteht ihr? faßt er mich, den Aussätzigen an. Ohne Furcht". Diese Berührung ist es, die den Ungläubigen umkrempelt, die ihn glauben läßt, er habe den Heiland gesehen. "Das mußt du festhalten", sagt Diastasimos zu dem jugendlichen Gottsucher Tabeas, "oder dein Zeugnis ist nichts wert."

Anders als der Film kann die Literatur es sich nicht leisten, den Bildern zu mißtrauen. Sie muß beim Leser Bilder evozieren, und Patrick Roth gelingt dies auch über weite Strecken. Doch im ersten Drittel des Buches vertraut er zu sehr auf die Evidenz der Wörter. So folgt er beispielsweise den Bedeutungsspuren des Namens Chaplin, französisch Chapelain (dt. Kaplan) zu wortverliebt nach. Noch aus dem "Chap" meint er den Schwertstreich herauszuhören, mit dem der heilige Martin seinen Mantel, seine Capa zerteilte. Das ist, rundheraus gesagt, nicht gut und auch nicht überzeugend gelöst. Patrick Roth betreibt hier eine Alchimie der Wörter, die den Leser ungeduldig fragen läßt: Was will er denn, was bezweckt er, wo führt er uns denn hin?

Gegen Etymologie ist nichts einzuwenden, aber das Abenteuer ist kaum in den Wörtern selbst zu finden, sondern liegt darin, den Weg eines Wortes zurückzuverfolgen, zu beschreiben, wie Bedeutung entsteht, sich eins ins andere fügt, wie die Lautgestalt sich in Bilder übersetzt – wie dann mit einemmal alles klar wird. Patrick Roth hingegen setzt auf die Evidenz der Wörter und der Laute. Er schneidet ihnen den Weg ab, indem er sie in Versalien setzt, sie kursiviert, sie aufblitzen läßt, als sei die Hervorhebung schon von Bedeutung: "Zum Beispiel FLOG in unserem Streifen die KAMERA wellesisch-aggressiv aus einer TOTALEN im LOW ANGLE zur Rückenpartie einer Halbnackten in Hitchcock-Unterwäsche auf, die sich – im sternbergschen Chiaroscuro eines MEDIUM CLOSE UP – wellesisch-barock zur Kamera drehte, den Telefonhörer ans Ohr gepreßt, wild ihren blonden Haarschweif in Peckinpah-SLOW MOTION nachkreisen ließ, während die rotierende Wählscheibe im CRESCENDO eisensteinscher FLASH CUTS entgegengesetzt kreiste und – plötztlich hielt."

Es hebe den Finger, wem sich das in Bilder übersetzt (dem Cineasten vielleicht), wer das nicht gleich als Blendwerk beiseite tut. Hier hätte man arbeiten – oder beherzt streichen müssen. Wunderbar ist hingegen der Weg beschrieben, den der Autor am kalten ersten Januar des Jahres 1976 beschreitet, um Charlie Chaplin seine Verehrung auszudrücken – und sei es nur mit einer Geste, einem Brief. Ein ungewisser Weg in den schweizer Wohnort Vervey, den aber wohl jeder Begeisterte mitgehen würde. Wenigstens der Brief erreicht sein Ziel – und der alte Mann, heißt es, sei zu Tränen gerührt.

Hier spätestens wird klar, was der Untertitel dieser "Reise zu Chaplin" auch zu bedeuten hat: Ein "Encore" im Wortsinne ist gemeint, eine Reise, die "bis zur Stunde" fortdauert, der es nicht ums Ankommen geht. Also doch ein Buch "von Herzen" (en cœur), und – was sich aus derselben Quelle speist – eine Ermutigung (encourage), seinen Weg fortzusetzen.

LUTZ HAGESTEDT

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