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Die Welt als Vorstellung und Betrug

Zwei postmoderne Amerikaner auf dem deutschen Buchmarkt

John ist ein überaus erfolgreicher Unternehmer in einem Städtchen auf ehemaligem Indianerterrain im mittleren Westen der USA. Johns Frau verkörpert die ›innere Wahrheit‹ der kleinen Gemeinde, sie ist der Inbegriff der ›Homecoming Queen‹. Alle Welt liebt Johns Frau: Der Fotohändler Gordon möchte sie mit seinen Schnappschüssen "kartieren", er ist ein "Gebärdensammler", der jede Geste von Johns Frau auf Zelluloid zu bannen versucht. Alf, der Frauenarzt, wird sentimental, wenn er Johns Frau den Finger reinschieben darf. Otis, der Ordnungshüter, träumt von einer Verkehrskontrolle der besonderen Art. Floyd, der Religionslehrer, predigt das zehnte Gebot bis zur Selbstkasteiung. Und Waldo hält sich nur zurück, weil John sein Arbeitgeber ist. Daphne, die Busenfreundin von Johns Frau, hält sie für die Reinheit in Person. Kate glaubt an Johns Frau, weil sie an die Macht der Liebe glaubt. Nur Lorraine, Waldos Frau und erst seit kurzem Bürgerin des Ortes, traut Johns Frau eine außereheliche Affaire zu.

Alle Personen in Robert Coovers Roman werden in ihrem Verhältnis zu Johns Frau und in ihrer Einstellung zur Liebe charakterisiert: Maynard der Dritte meint, die Liebe sei etwas für "Schlaffis". John benutzt viele Frauen, liebt aber keine, nicht einmal die eigene. Lorraine liebt – wenn überhaupt – mit Mißtrauen: Sie hält die Liebe für einen billigen Verkaufstrick. Waldo glaubt an die Liebe als unwiderstehliche, kasteiende Kraft. Beatrice glaubt, alle Liebe komme von Gott. Kate vertritt die Auffassung, Güte, Wahrheit und Schönheit seien ohne Liebe nicht denkbar. Dutch hält die Liebe für gefährlich. Alf diagnostiziert Liebe als Sedativ für den Verstand. Für seine junge Sprechstundenhilfe ist Liebe einfach "geil".

Robert Coover ist ein Erzähler der kurzen, schnellen Schnitte. Auf wenigen Seiten stellt er uns drei Dutzend Paare vor, und mit ein, zwei kurzen Schlaglichtern zeigt er von jeder einzelnen Figur genug Profil, um sie plastisch, lebendig, individuell erscheinen zu lassen. Nur eine Figur, Johns Frau, das Zentrum der Gemeinde, bleibt über knapp 700 Seiten merkwürdig nebulös und unpräzise. Nicht durch das Unvermögen des Erzählers oder Autors (die nicht miteinander identisch sind), sondern aus Kalkül. Johns Frau ist so etwas wie ein Ideal, ein ›offenenes Geheimnis‹ – jeder kennt es, aber keiner hat es zu ergründen vermocht. Jedes gute Geheimnis, lehrt schon Umberto Eco, ist leer, und je länger und intensiver Johns Frau durch Coovers Figurenensemble charakterisiert wird, desto mehr erweist sie sich als Nullposition, als Projektionsfläche, als intrinsische Motivation aller Handlungen und Erzählungen. Das ist so schön gemacht, daß man sich an Patrice Lecontes wunderbaren Film "Der Mann der Friseuse" erinnert fühlt, zumal auch Coovers Roman wie ein Märchen beginnt: "Es war einmal ein Mann, der hieß John [...] Trotz allem, was seiner Frau und seinen Freunden widerfuhr, lebte John glücklich bis an sein Ende, als sei es ihm so bestimmt und stehe ihm so zu." Auch bei Leconte steht ein Paar im Zentrum aller Handlungen, aller Reflexionen, aller Begierden, ja der Welt überhaupt, nur mit dem Unterschied eben, daß der Mann und die Friseuse selbst sichtbar werden. Von Johns Frau erfahren wir nicht einmal ihren Namen, und die Merkmale, die die verschiedenen Personen ihr zuordnen, sind bestenfalls spekulativ, stehen nicht selten im Widerspruch zu dem, was andere über sie gesagt haben oder sagen werden. Rätselhaft, diese Komposition mit einer solch elementaren Lehrstelle im Zentrum: Wir ahnen, die "gute Seele", von der alle sprechen und träumen, gibt es gar nicht; sie ist Teil einer großen Illusion, einer "gewaltigen Leere". Dafür geht es in der Peripherie umso heftiger und konkreter zu. Da hier so viel von der Liebe die Rede ist, sorgt die Liebe auch für allerhand Wirbel, für destruktiv ausgelebte Leidenschaften, für eine kühle Mechanik im sexuellen Stellungswechsel, für orgiastische Zerstörungswut.

Für Aggressionen sorgt unter anderem Johns rücksichtslose Baulöwenpolitik. Er hat der Gemeinde gerade ihre Grünanlage genommen, um an ihrer Stelle ein häßliches Tagungszentrum zu errichten. Seit der Schulzeit schon tragen Marge und John erbitterte Kämpfe aus, und bisher hat John noch jede Runde für sich entscheiden können. Das öffentliche Wohl, für das Marge einsteht, ist dabei oft genug auf der Strecke geblieben, aber immer hat Johns zerstörerische Kraft auch Neues hervorgebracht.

Der ebenso dickleibige Roman des kürzlich verstorbenen William Gaddis, "Die Fälschung der Welt", ist bereits vor mehr als vierzig Jahren erschienen, und doch, auf etwas abstrakterer Ebene, durchaus mit "Johns Frau" vergleichbar. Auch Gaddis´ Romane gelten als postmoderne Dekonstruktionen des ›american way of life‹, auch hier wird "jeglicher Variante von Sexualität" (J. W. Aldridge) Raum gegeben, um von den permanenten Auflösungserscheinungen westlicher Wertesysteme zu erzählen. Der wichtigste semantische Raum aber, vom Zerfall zu erzählen, ist bei Gaddis die Religion. Zum einen führt der Roman dem Leser performativ vor Augen, daß er eine Fülle religiöser Texte, Figuren und Motive gar nicht mehr einordnen kann. Ein Führer durch Gaddis´ Roman versucht, dieses in Teilen apokryphe Wissen wiederherzustellen. Dabei fällt auf, daß der Stellenkommentar von Steven Moore auf eine Fülle liturgischer und geistlicher Werke der europäischen Klassik und Romantik referieren muß, für die charakteristisch ist, daß sie zwar noch in religiösen Kontexten funktionieren, als ›absolute Musik‹ aber weit über sie hinausweisen. Eine ganz analoge Beobachtung ist für die Hauptfiguren des Romans zu machen: Gaddis schildert die Person des Reverend Gwyon, der, auf der Überfahrt nach Spanien zum Witwer geworden, in der Alten Welt primitiven Naturreligionen in die Arme fällt und einen neuen Mithras-Kult begründen möchte. Sein Sohn Wyatt, der im Alter von vier Jahren seine Mutter und wenig später seinen Vater verliert, wird Künstler, und als Künstler tritt er in Konkurrenz zu Gott. In seiner Person ist die Fortschreibung der Prometheusgestalt angelegt, die sich vom Götterdienst abwendet und ganz der Kunst verschreibt. Als genialer Kopist alter Meister arbeitet Wyatt bald zwei kunstverständigen Schiebern und Hehlern in die Hände, statt selber originale Kunst zu schaffen.

Robert Coover und William Gaddis gelten als wichtige Vertreter der Postmoderne. Ihre Werke sind geschickt gemachte Gefüge aus Versatzstücken der Kulturindustrie und der amerikanischen ›Erfindung‹ der Psychohistorie. Die ›dekonstruierte‹ Fabel ist jeweils autoreflexiv und autopoietisch und spielt ständig mit der Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginierten. In der dargestellten Welt scheint es nichts zu geben, was nicht den Anschein von Fälschung und Täuschung, oder doch wenigstens den des Artifiziellen und Virtuellen erweckte. Das Thema von Originalität und Epigonalität, von Fälschung und Plagiat ist nicht erst ein postmodernes, aber es hat in der Postmoderne eine neue Aktualität bekommen. Die goethezeitliche Geniekonzeption, der zufolge das geniale Subjekt ganz allein aus sich heraus produktiv tätig sei und des Vorbildes nicht bedürfe, gilt hier nicht mehr. Hier ist es gerade das Vorbild, die Spur des anderen, die Verarbeitung tradierter Stoffe und Erzählweisen, die aus dem bereits bekannten den neuen Funken schlagen soll. "Realität", heißt es bei William Gaddis, sei "die Gesamtzahl der Dinge", an denen man "nichts ändern" könne. Im Umgang mit den Dingen hat die Postmoderne gezeigt, daß man in der Welt vielleicht nicht viel ändern kann, aber daß schon viel erreicht ist, wenn man beginnt, die Welt nur verschieden zu interpretieren.

LUTZ HAGESTEDT

Robert Coover: Johns Frau. Roman. Aus dem Amerikanischen von Gerd Bürger. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. 670 Seiten, 48 DM.

William Gaddis: Die Fälschung der Welt. Deutsch von Marcus Ingendaay. Zweitausendeins Versand, Frankfurt am Main 1998. 1.244 Seiten. Steven Moore: Die Fakten hinter der Fälschung. Ein Führer durch William Gaddis´ Roman ›Die Fälschung der Welt‹. Deutsch von Klaus Modick. Zweitausendeins Versand, Frankfurt am Main 1998. 290 Seiten. Zus. 99 DM.

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