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Zauberhafter Rückzug Gottes aus der Schöpfung

In Ulla Berkéwicz neuer Erzählung "Zimzum" wird aus Schmonzeß Literatur

"Dem Glücklichen schlägt keine Stunde", heißt es. Die Eingangsszene von Ulla Berkéwicz neuem Buch "Zimzum" zeigt die Happy Hour, die Glückliche Stunde auf einer spanischen Ferieninsel, die Stunde nach dem Strand und vor dem Abendessen. Was ist das für ein Glück, wenn an einem jeden Tag eine Stunde dafür vorgesehen ist, fest umzirkelt und bemessen, jeden Tag zur selben Stunde?

Es ist eine Stunde, in der sich etwas ereignet, Einbruch der Dunkelheit, sehr schnell stürzt die Sonne ins Meer, auch in den Köpfen dämmert es, es ist das Säuferglück der Touristen.

Ort der Handlung ist ein kreisrunder Platz, ein Orbis, von allen vier Seiten Zufahrtsstraßen, Autos dicht an dicht, ein Straßenring. Auf dem Platz Cafés und Restaurants, Kellner und deutsche Touristen und das allabendliche Ereignis: Eine einheimische Frau, in schwarzer Sommerwolle, nicht mehr ganz jung folglich, onaniert öffentlich und für Geld. Die Hände der Frau bewegen sich, die Autos stoppen, die Kellner warten, die Touristen glotzen, die Frau ist fertig und hält die Hand auf, das Geschehen nimmt seinen gewohnten Lauf.

Die Gruppe von Freunden, um die es hier geht, ein Paar und vier Singles, sitzt inmitten eines Pulks von Touristen. Kursorisch wird auch die anonyme Meute schwitzender Urlauber bemüht, werden zwei Gestalten herausgehoben: Fleischnacken und Turmschädel. Fleischnacken zieht sich am Nebentisch, sehr appetitlich, die verbrannte Haut vom Gesicht, Turmschädel klopft sich die Schmeißfliegen vom Hals. Deutsche im Ausland – immer wieder peinlich. Diese beiden Figuren kommen im Buch kaum dreimal vor, sie sind Stereotypen, sind Leerlauf der Schöpfung, jeder kennt sie, keine zwei Seiten werden auf sie verwandt, und doch geben sie die sujetlose Textschicht ab, die Kulisse, das Panorama, vor dem Ereignisse sich ereignen. Seit die Freizeitindustrie erkannt hat, daß die meisten Menschen auch im Urlaub nichts mit sich anzufangen wissen, gibt es die Animateure. Die Animierdamen gab es schon immer. Auf dem Platz auf der Insel aber herrschte Leerlauf, Langeweile, wäre da nicht das tägliche Ereignis, und am Ende des Buches – das tödliche Ereignis.

"Auf den Plätzen münden die Geschichtsströme ein", sagt man, und dies Wort gilt auch für die Literatur. Erzählerin ist eine junge Frau, die mit Freunden auf der Insel Urlaub macht. Unheimliche Vorstellung das, mit Freunden Urlaub machen, und seien es die besten. Da bekommt man Einblick in Beziehungen, da wird man ins Vertrauen gezogen, da bröckelt die Fassade, da werden Lebenskrisen sichtbar, kommen Verzweiflung und Leere zum Vorschein. Und das im Urlaub.

Die weibliche Hauptfigur im Zentrum der Freunde ist tatsächlich eine Erzählerin, eine Frau mit Theaterhintergrund. Sie hat von der Freundin das Tagebuch bekommen: "Mach was aus meinem Leben, schreib es um", hat sie gesagt. Das ist eine seltsame Aufforderung: Die Freundin übergibt ihr Leben in Form eines Tagebuchs, liefert sich aus, vertraut der Erzählerin, erwartet von ihr, daß sie ihr ein besseres Leben schreibt – eine wichtige Nahtstelle der Erzählung.

"Zimzum", das ist der Rückzug Gottes aus der Schöpfung. Gott "hat den Zimzum gemacht", so hat die jüdische Großmutter der Erzählerin einst erzählt: "Er hat sich in sich selbst verschränkt, um Raum für uns zu machen, Leerraum. Doch als Er sich zurückgezogen hat, ist ein bißchen von seinem Goldstaub in unseren vier Wänden hängengeblieben, Halleluja! Und jetzt, fährt die Großmutter fort, "jetzt kommts darauf an, hineinzublasen in den Staub, damit er sich verteilt, der Rest ist Schmonzeß, Amen." Man kann diesen Goldstaub noch sehen, zum Beispiel in einer sternklaren Nacht.

Der Zimzum ist ein recht spätes Theorem der Kabbala, er gehört aber zur alten Frage der Theodizee, also der Frage nach einer guten und gerechten Weltordnung. Kann Gott sie garantieren, wenn er sich aus seiner Schöpfung zurückgezogen hat? Der Idee vom Zimzum wuchs im 16. Jahrhundert große Plausibilität zu, als die Einheit des Glaubens zerbrochen war und sich geschichtliche Katastrophen, menschliche Tragödien nicht länger verleugnen ließen. Die Existenz des Bösen ließ sich mit dem Zimzum ebenso begreifen wie die Kraft des Lichts und die Hoffnung auf den Sieg des Guten.

Nun wird aber der Zimzum von der jüdischen Großmutter der Erzählerin thematisiert, die Theresienstadt und den Holocaust überlebt hat. Und es ist auch völlig klar, daß der Zimzum im 20. Jahrhundert nicht mehr dieselbe Kompetenz beanspruchen kann, den Verlauf der Weltgeschichte zu erklären wie einst. Ganz konsequent wird deshalb das Zimzum der Großmutter zum poetischen Bild transformiert: Es beansprucht nicht mehr, Baustein einer Theodizee zu sein. In der Mitte des Buchs schildert die Erzählerin einen Gottesdienst in einer lutherischen Pfarrgemeinde, einer Kirche, die ihrer Heilsgewißheit beraubt, zum kalten Inszenierungszauber für abgelebte Gestalten verkommen ist. Die Erzählerin weiß: Hier hat sie nichts mehr zu erwarten. Als Kind schon hat sie den Konfirmandenunterricht geschwänzt, und heute ist ihr klar, daß es für Inszenierungen nur einen Ort gibt, das Theater, und ans Theater möchte die Erzählerin auch wieder zurück.

Wo sich Gott aus der Schöpfung zurückgezogen hat, da ist für uns der Weg in die Schöpfung frei – das ist die andere Dimension der Geschichte. Kaum merklich verändert sich der Realitätsstatus der Figuren und die Funktion der Erzählerin. Das zweite Kapitel zeigt sie, allein, im Hotelzimmer. Sie hat sich zurückgezogen, hier spricht sie mit sich selbst, und dieses Selbstgespräch heißt: Literatur. Ihre Freunde, so wird hier deutlich, sind auch ihre Figuren: "Ich lerne ihre Sprache", heißt es da, "sie schreiben mit meiner Hand." Literatur entsteht hier in einer symbiotischen Beziehung der imaginierten Figuren zur Erzählerin. Die Beziehung endet, wenn "alles aufgeschrieben" ist. Manche Figuren bleiben schon nach den ersten Sätzen weg, das sind die wenig ergiebigen, andere bleiben hundert Seiten oder länger: "Wir leben miteinander, streiten uns, versöhnen uns, es ist auch schon vorgekommen, daß wir uns geliebt haben, es ist auch schon vorgekommen, daß wir uns bis zum Wahnsinn und mit Messern -."

Vielleicht hat die Theaterfrau Ulla Berkéwicz hier eine heimliche Referenz auf Luigi Pirandellos berühmtes Stück "Sechs Personen suchen einen Autor" untergebracht. Die ganze Raumsemantik erinnert an ein Bühnengeschehen, es wäre ein leichtes, den Text als Theaterstück zu realisieren. "Ich will wieder ernsthaft zurück zum Theater", sagt die Erzählerin an anderer Stelle, und versucht, dem Kellner die Leere mit Theaterzauber zu füllen. Ähnlich wie bei Pirandello wird der Unterschied zwischen realer und imaginierter Realität aufgehoben: Die Freundin gibt ihr das Tagebuch, "mach was aus meinem Leben, schreib es um". Aber diese Tagebuchgeschichte gibt nichts her, oder doch immerhin die Erkenntnis, warum sie nichts hergibt. Unter der Hand entsteht hier eine Poetologie möglicher Stoffe.

Im Selbstgespräch zieht sich die Erzählerin in sich selbst zurück, und dieses Bild kennen wir schon, es entspricht dem Zimzum, dem Rückzug Gottes aus der Schöpfung. Bei der Erzählerin hingegen: Ist es der Auftakt, sich selbst zu erfinden, ausgelöst von Kindheitserinnerungen, vor allem an die jüdische Großmutter, die sie – selbst niemals frei von Angst – über die traumlosen Nächte hinweggetröstet hat: das sei Gottesraum. Schon als Kind träumt sie gegen den ihr unbegreiflichen Tod an und gegen die unendlich ewige Leere danach.

Am Ende schließt sich der Kreis, die Ferieninsel. Je kleiner die Welt wird, je enger die Menschen zusammenrücken müssen, je weniger Platz bleibt, den es zu überbrücken gilt, damit der Horror vacui nicht hochkommt, desto größer wird die Leere in den Köpfen: Zuviele Menschen, zuwenig Aufgaben, zuwenig Arbeit für die, die arbeiten wollen, zuviel freier Raum und freie Zeit für Leute, die damit nichts anzufangen wissen, zuviele Menschen, die selbst leer sind und daher auch nur auf Leere stoßen. Zuviel Redundanz in den Köpfen und in den Angeboten der Freizeitparks, zuwenig Kitzel für die Erlebnisgesellschaft, die eh´ am Abgrund steht.

Die Erzählerin von "Zimzum" hat es da noch eher gut getroffen: Erstens weiß sie um die Leere, und zweitens hat sie die Erinnerung, um diese Leere auszufüllen. Und Erinnerung liegt immer auf der Grenze zur Fantasie. Die Erzählerin ist selbst nicht leer, sondern hat mit dem Gegenteil der Leere zu tun, der Fülle. Als sei kein Platz mehr in ihr für neue Gefühle, Stimmungen, Gedanken, trägt sie Erinnerung nach außen. Aus Schmonzeß wird Literatur.

Lutz Hagestedt

Ulla Berkéwicz: Zimzum. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1997. 122 Seiten, 32 Mark.

ISBN 3-518-40849-6

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