Sittengeschichte der DeutschenHans Traxler wird siebzigVon Lutz Hagestedt Hans Traxler, geboren am 21. Mai 1929 in Herrlich, ist ein vielseitiger Künstler. Seit vierzig Jahren bereichert er mit seinen Arbeiten das Kinderbuch und die historische Bildererzählung ebenso wie den politischen Cartoon. Seine Bücher heißen "Die Wahrheit über Hänsel und Gretel" (1963), "Birne, das Buch zum Kanzler" (zusammen mit Peter Knorr, 1983) oder "Ode an Hemingway" (1989). Berühmt ist seine "kurzgefaßte Geschichte der römischen Päpste", doch seine eigentliche Domaine ist der Cartoon. Der Cartoonist ist ein Erzähler, der sich auf ein einziges Bild beschränken muß, auf eine bildhafte Kurzerzählung quasi – keine einfache Sache. Dem Cartoonisten fehlt die Bilderfolge, mit der er seine Bildidee vorbereiten könnte, also wird er mit Grundkonstellationen und Standardsituationen arbeiten: Zu sehen ist ein säumiger Schiffsreisender mit Gepäck und Regenschirm am Hafenbecken von Southampton. Soeben hat die Titanic ohne ihn zu ihrer Jungfernfahrt abgelegt. Nun steht er in einer roten Fernsprechzelle und telefoniert mit New York: "Hallo, Mutter, bist du´s? [...] mir ist soeben etwas ganz, ganz Dummes passiert!" Der Cartoonist arbeitet mit dem kulturellen Wissen des Betrachters. Dieses Wissen soll im Grunde bei jedermann abrufbar sein. Der Betrachter weiß: Die Titanic wird untergehen, viele Menschen werden sterben; wer hier zu spät kommt, wird mit dem Leben belohnt. Hans Traxler hat seine Bildidee denkbar präzis und ökonomisch umgesetzt: Ihm genügen das Hafenbecken und vier Schiffskräne, die wie traurige Fabeltiere dem auslaufenden Luxusliner nachzublicken scheinen, zwei Schlepper am Horizont, im Vordergrund die Telefonzelle, der verhinderte Passagier und sein Reisegepäck. Noch zwei weitere Titanic-Cartoons bietet Traxlers stolzer Geburtstagsband "Alles von mir!", einer davon stellt die Theodizee-Frage: Warum hat Gott das zugelassen? Die lucide Antwort des Cartoonisten: Gott im Himmel spielt mit seinen Engeln Schiffeversenken. Bildaufbau und Bildelemente des Cartoons dürfen und sollen Anspielungscharakter haben. Eine von Traxler häufig umgesetzte Cartoon-Idee referiert auf Saul Steinberg und dessen berühmtes Panoramabild "The New Yorker" von 1976. Unser Zeichner folgt Steinberg, kultiviert aber den Blick vom Brenner auf das "gelobte Land" Italien: Bis Sizilien können die Extremsportler blicken, die die Strecke "Husum – Rom per Purzelbaum" bewältigen müssen – natürlich für das "Guinness-Buch der Rekorde". Seit mehr als zwei Jahrzehnten pflegt und variiert Traxler diesen Fernblick auf Italien. In einer Variante zeichnet er deutsche Geschichte – die Öffnung der Grenzen erst gibt DDR-Bürgern den Blick auf den Stiefel frei: "Idalien! Wie´s leibd und läbd". Traxlers Farbpalette hat ihre eigene Semantik: Erdige Töne dominieren seine Freiluftzeichnungen aus Moskau und Umgebung; ein Selbstportrait zeigt den Künstler vor der Basiliuskathedrale, grau in grau wie die Stadtlandschaft von Bitterfeld. In leuchtenden Farben marschiert die Frankfurter Spaßgesellschaft über den Eisernen Steg, ein Panzer fährt als Werbeträger in den Krieg, analog zur Formel eins über und über mit Emblemen großer Medien beklebt. Mithilfe der Farben gliedert Traxler seine Zeichnungen in Vordergrund und Hintergrund: Leuchtend blau berockte Offiziere der k. u. k. Monarchie tragen ihr Duell als Kissenschlacht aus, diskret warten am ockerfarbenen Waldrand der Notarzt und die Sekundanten. Ein eigenes Genre bilden die Illustrationen des großen Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg. Robert Gernhardt hat einmal auf Lichtenbergs geheime Verwandtschaft mit dem Cartoonisten hingewiesen – Lichtenberg habe seine Cartoons "nicht gezeichnet, sondern lediglich geschrieben". Die Neue Frankfurter Schule, der Traxler gern zugerechnet wird, hat mit Gernhardt, Waechter und Traxler eine Fülle von Lichtenberg-Illustrationen geschaffen, und es ist höchst aufschlußreich, zu welch unterschiedlicher Bildfindung die Künstler bei ein und demselben Sudelspruch kommen: "Da liegen nun die Kartoffeln, und schlafen ihrer Auferstehung entgegen" (G 191). Bei Traxler gruppieren sich die Kartoffelleichen im Acker zu einer menschenähnlichen Figuration. Bei Gernhardt liegen sie in ihrer Kartoffelkiste und träumen von der Reinkarnation als Pommes frites. Gemeinsam zeigen sie das Spektrum möglicher Lichtenberg-Interpretationen: Gernhardt versteht ihn heiter, Traxler ernst. Gleich sechs seiner Cartoons in diesem Band illustrieren Lichtenberg. Der Sudelspruch "Mit größerer Majestät hat noch nie ein Verstand stillgestanden" zeigt den aktuellen Papst auf Petri Stuhl. Der in Frankfurt lebende Künstler studiert nach dem Leben. Er hat einen Blick für große Comic-Charaktere, die er virtuos ins Bild setzt: Papst Paul VI und Johannes Paul II, Sigmund Freud und Charles de Gaulle, Hemingway und Goethe. Seine Cartoons gruppieren sich zu einer Sittengeschichte der Deutschen. Der Jubiläumsband, mit dem Zweitausendeins sein Programm schöner Bücher um einen liebevoll ausgestatteten Band erweitert, wird durch ein lucides Nachwort von F. W. Bernstein (das ist Fritz Weigle) über den Gelegenheitsmaler, durch eine "Wirkungsgeschichte" aus Traxlers Feder und einen Chor gemischter Stimmen ("Lob und Tadel") abgerundet. Hans Traxler: Alles von mir! Mit Nachbemerkungen von F. W. Bernstein. |