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Gelebt von Millionen, von Millionen gelesen

Am 22. Juni wäre Erich Maria Remarque 100 Jahre alt geworden

Mein Exemplar aus dem Erscheinungsjahr von "Im Westen nichts Neues" trägt den Vermerk: 126. – 150. Tausend. Nur ein kleiner Hinweis auf den enormen Erfolg, des Kriegsbuchs, das 1929 ohne Gattungsangabe in Berlin erschienen ist und seinen Verfasser binnen weniger Woche zum erfolgreichsten Schriftsteller seiner Generation machen wird. Seine Generation, das sind vor allem die sogenannten "Muschkoten", die einfachen Soldaten der Infanterie, die von der Schulbank weg in den Weltkrieg ziehen und bei Langemarck, Verdun oder im Stellungskrieg einen sinnlosen Tod sterben.

Remarque, eigentlich Erich Paul Remark, wird 1898 in Osnabrück geboren. Der Vater ist Buchdrucker und Buchbinder, später Maschinen-Meister, und dem Okkultismus zugetan. Von den drei Geschwistern stirbt der älteste Bruder bereits als Kind. Erich ist ein guter Schüler, aber das Geld für das Gymnasium fehlt. Er liest viel, jedoch ohne Konzept, bleibt Genuß-Leser. Jahre später, im Exil, bekennt er: "Das Schönste von Deutschland, das man mitnehmen konnte, waren Gedichte." Seit 1912 besucht er die "Katholische Präparande", seit 1915 das Katholische Lehrerseminar in Osnabrück. Was ihn stärker noch prägen wird, ist die Bekanntschaft mit dem Maler-Dichter Fritz Hörstemeier, einem jugend- und naturbewegten Nudisten und Verfechter freier Sexualität. Und natürlich der Weltkrieg, damals noch ohne Ordnungsziffer: Am 21. November wird Remarque Soldat. Im flandrischen Ham-Langlet wird er Ende Juli 1917 verwundet und ins Lazarett nach Duisburg verlegt. Für ihn ist – Glück im Unglück – der Krieg vorbei. Er beginnt, an einem Roman über den Krieg zu arbeiten, aber erst zehn Jahre später wird es ihm gelingen, den erlebten Schrecken umzusetzen: "Die Situationen in meinem Buche sind wahr und erlebt", erklärt er 1929, selbst noch am meisten überrascht vom sensationellen Erfolg seines "Romans".

Nach der Entlassung aus der Armee kehrt Remarque nach Osnabrück zurück. Die Mutter ist 1917 gestorben, der Vater hat ein zweites Mal geheiratet. Seinen ersten, in vieler Hinsicht peinlichen Roman, die neuromantische "Traumbude", 1920 in Dresden erschienen, läßt er 1929/30 aufkaufen und makulieren.

1919 legt Remarque die Lehramtsprüfung ab und tritt seine erste Stelle an. Er streitet sich mit den Schulbehörden herum, läßt sich bereits Ende 1920 beurlauben und wird diese Zeit in seinem Roman "Der Weg zurück" (1931) aufarbeiten. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, arbeitet schließlich als Theater- und Konzertkritiker bei der Osnabrücker Tages-Zeitung. In der Provinz verkümmernd, literarisch mit seinem Erstling epigonal gescheitert, nagen diese Jahre an seinem Selbstbewußtsein. 1922 zieht er nach Hannover und verdient als Werbetexter für die Continental-Reifenwerke gutes Geld. Literarisch entwickelt er sich weiter, wenn auch nicht bedeutend. 1925 wird Remarque Redakteur der Berliner Zeitschrift "Sport im Bild" – die zum Scherl-Verlag des berüchtigten Pressezaren Alfred Hugenberg gehört. Gott ja, der Geheimrat Hugenberg, der "Mann aus dem Dunkeln", der Führer der Deutschnationalen Partei, geifert bereits gegen die Weimarer Republik. Es scheint Remarque nicht zu stören. Er spielt die Rolle des unpolitischen Parvenüs und veröffentlicht in Fortsetzungen den schmalzigen "Männerroman" "Station am Horizont".

Remarques Biographie in der Darstellung Wilhelm von Sternburgs, der sich diese detaillierten Stationsbeschreibungen verdanken, liest sich angenehm und spannend, verrät die erfahrene Hand des Jornalisten, der umfangreiche Datenmengen zu bewältigen weiß. Seine Darstellung ist erfreulich faktensicher, kompetent in der literarischen Gewichtung des Œuvres und vorzüglich geschreiben. Am Leidfaden von Remarques Biographie erschließt sie uns die politisch-sozialen Verwerfungen dieses Jahrhunderts; mühelos und mit Augenmaß, wie es scheint, holt sie das relevante kulturelle Wissen herein, das zum Verständnis dieses Volks- und Erfolgsschriftsellers hilfreich ist. Ihren Höhepunkt erreicht sie in der Darstellung der 30er und 40er Jahre: Von Remarques Ansiedlung 1931 in Porto Ronco (nahe Ascona) über seine Jahre in Amerika bis zu seiner Begegnung mit Paulette Goddart 1951 – als Remarque überlegt, New York aufzugeben und für immer nach Europa zurückzukehren.

Was hat den "unpolitischen" Schriftsteller Erich Maria Remarque bewogen, lange vor Hitlers "Machtergreifung" Deutschland zu verlassen? Thomas Mann gesteht er einmal: "Ich bin wie durch Zufall auf die Seite verschlagen worden, auf der ich jetzt stehe; ich weiß aber, daß es, zufällig, die richtige ist."

Der Episodenroman "Im Westen nichts Neues", Remarques bis heute bekanntestes Werk, beschreibt die Zerstörungswut eines Krieges, der nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft infrage stellt: "Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. Die dargestellte Verzweiflung des Sinnlosen ist es vor allem, durch die sich Remarque bei allen Deutschnationalen und strammen Nazis Feinde macht. Andere, vor allem Gleichaltrige, schreiben diesem Buch einen fast "religiösen Offenbarungscharakter" zu und lesen es als "Rehabilitierung unserer Generation" (Axel Eggebrecht): "Gelebt von Millionen", so Carl Zuckmayer, werde es "auch von Millionen gelesen werden, jetzt und zu allen Zeiten".

Der Erfolg des Romans erklärt sich daraus, daß er einer sprachlosen Generation eine Sprache gibt und hilft, individuelle Probleme der Kriegsbewältigung zu thematisieren. Und es ist von zukunftsträchtiger Bedeutung, daß es rechter Propaganda 1930 bereits gelingt, ein Aufführungsverbot der Romanverfilmung in Deutschland durchzusetzen. Die Weimarer Republik kapituliert, erstmals weithin sichtbar, vor dem Druck des rechten Mobs.

Remarque, der sich selbst zu einem unpolitischen Autor stilisiert, flüchtet vor dem Haß und dem Erfolg, den sein Werk und seine Person auf sich ziehen. "Seine Situation nach dem bestürzend jähen Aufstieg schien prekär", schreiben Klaus und Erika Mann in ihrem Exilbuch "Escape to Life". Noch im Herbst 1929 behauptet der Autor, zu Hitler keine Meinung zu haben, eine Haltung, die ihm vielfach – unter anderem von Carl von Ossietzky – verübelt wird.

Die Vorgänge in Deutschland erschüttern ihn. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 notiert er in sein Tagebuch: "Absolutes Gefühl, auf einem Vulkan zu leben." Zu dieser Zeit ist Remarque vom nationalsozialistischen Deutschland bereits ausgebürgert worden. Werner Best bestätigt persönlich die Aberkennung der Staatsbürgerschaft. In der Begründung der Gestapo heißt es, Remarque habe "mit Unterstützung durch die jüdische Ullstein-Presse jahrelang in gemeinster und niederträchtigster Weise das Andenken an die Gefallenen des Weltkriegs beschimpft und sich schon dadurch aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen."

Im Dezember 1943 wird seine Schwester, Elfriede Scholz, wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und hingerichtet. Eine tapfere Frau, die Hitler eine Kugel durch den Kopf gewünscht haben soll.

Im amerikanischen Exil erscheint 1941 sein erster Exilroman "Liebe Deinen Nächsten" in englischer Übersetzung, ein Titel, der ironisch-spöttisch gelesen werden kann, wobei Komik, Sarkasmus, Ironie bei Remarque häufig als durchgearbeiteter Schmerz, als "Comédie humaine" eines haltlosen und verzweifelten Zeitalters gelesen werden müssen.

Remarque, als Autor erfolgreich wie kein zweiter, hat privatim Probleme. Irgendwie gerät er immer an Frauen, die ihn zur Verzweiflung treiben, andere Verhältnisse laufen haben. Man quält sich gegenseitig mit mondäner Libertinage einerseits, mit bürgerlicher Engherzigkeit andererseits. Die erste Ehe mit Jutta Zambona wird 1930 geschieden. Später heiratet er sie ein zweites Mal, um ihr den Aufenthalt in der Schweiz zu sichern. Remarque wird seine Niederlagen literarisch verarbeiten: In "Drei Kameraden" (1936) die komplizierte, fast psychotische Verbindung mit Jutta, in "Arc de Triomphe" die Affaire mit Marlene Dietrich. Dieser Frau ist er wie ein Hündchen gefolgt, eifersüchtig und ewig spitz, so gar nicht der souveräne Plyboy, den er so gern verkörpern wollte. Seit 1937 ist er mit diesem lebenden Mythos befreundet, und ihre (bisweilen bi-) sexuellen Aktivitäten irritieren und schmerzen ihn. Wilhelm von Sternburg beschreibt Remarques Privatleben bis Ende 1940 sehr plastisch als Schmierenkomödie mit Kolportageelementen. Als der Leidensdruck zu groß wird, vollzieht Remarque den endgültigen Bruch: "Nur was man abbricht bleibt. Darum: Adieu!" Remarque trinkt, besucht Bordells, hat Affairen, nur um die Dietrich vergessen zu können.

Er ist im Grunde ein einfacher Mann, ein Kleinbürger. Erst die Freundschaft mit Ruth Albu, einer jungen Schauspielerin, und Walter Feilchenfeldt, dem Verleger und Kunsthändler, öffnen ihn für die Kunst und bilden seinen Geschmack. Kunstschätze, darunter ein Van Gogh, umgeben ihn bald in seinen Häusern und Hotelsuiten.

Diese Biographie macht Lust, Remarque zu lesen, alles, was vorliegt, die Romane, Theaterstücke, Essays und Gedichte, die Tagebücher und Briefe: Da er öffentliche Auftritte meidet, versucht der gefragte Autor wenigstens, seine Briefschuld abzutragen: "Ich bekam Ihren Brief, der von Ausdrücken wie tierisch, gemein, eklig, verleumderisch etc. strotzt", schreibt er einem offenbar unchristlichen Kaplan, "und muß Ihnen offen sagen, daß ich etwas verwundert (bin), daß Sie auf eine Antwort drängen. Was soll ich Ihnen denn nur antworten?" Wunderbar, ein solcher Brief in solcher Ratlosigkeit, tausendmal beschämender für den Geistlichen, als wenn Remarque seinerseits ausfällig geworden wäre. Hier tun sich Grenzen auf, absolute Grenzen der Kommunikation.

Der Erfolg von "Im Westen nichts Neues" bleibt kein Einzelfall. Remarque hat ein Händchen, er weiß, Themen für einen breiten Publikumsgeschmack zu erschließen. "Arc de Triomphe", der Roman eines deutschen Emigranten in Paris, 1945 zunächst in englischer Übersetzung erschienen, wird auch in den USA ein Erfolg, ebenso wie "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" (1954) oder "Die Nacht von Lissabon" (1963). 1947 wird Remarque amerikanischer Staatsbürger, aber er lebt in seinen letzten Lebensjahren hauptsächlich in der Schweiz. 1970 stirbt der inzwischen schwer Herzkranke. Seine Leser findet er noch heute: Zwischen 40.000 und 50.000 Exemplare von "Im Westen nichts Neues" werden jährlich verkauft, die anderen Erfolgstitel erreichen ebenfalls gute Werte: "Fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod ist Remarque ein unvergessener, vielgelesener Schriftsteller geblieben.

LUTZ HAGESTEDT

Wilhelm von Sternburg: "Als wäre alles das letzte Mal". Erich Maria Remarque. Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 512 Seiten, 49,80 DM.

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