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Ein Reservoir von Grausamkeit

Der schreckliche Erzähler Gert Hofmann

Von Lutz Hagestedt

Gert Hofmann entwirft, so meine These, in seinem Werk eine Ästhetik des Schreckens, eine infernalische Welt voller Grausamkeit, voller seelischer und körperlicher Verletzungen und Gebrechen. Selbst seine Kindergestalten kennen schon die Lust am Bösen, sie sind Peiniger oder Gepeinigte, und wo sie nicht selbst Hand anlegen, da entwickeln voyeuristische Lust oder verfolgen mit kaltem Blick, einem Interesse von klinischer Kälte, die Zuckungen des Opfers, die Qual der Kreatur. Das Leben ist ihr gestrenger Lehrmeister, und dieser Lehrmeister kümmert sich keinen Deut um die sozialutopischen Entwürfe unserer Kindergartenpädagogiker.

In den 70er Jahren, als die AutorenEdition in ihrer Präambel sich die Aufgabe stellt, "die gesellschaftlichen Probleme" in einer "realistische[n] Schreibweise" zu thematisieren, sich ein Werkkreis "Literatur der Arbeitswelt" bildet, die Frauenliteratur, die autobiographische Selbstbespiegelungsliteratur, "Verständigungstexte" und "Suchbilder" nach Vätern und Müttern den geistigen Horizont der schreibenden Zunft abstecken, da bereits tut Gert Hofmann mit seinen keineswegs auf Verständigung bedachten und als Identitätserkundung angelegten Texten Befremdliches. In den 80er Jahren, als die Wahrheits- und Bekenntnisliteratur ihren Abschied nimmt und die neue Feierlichkeit ihren Einzug in die Literatur hält und vornehmere Töne anstimmt, als es Mode wird, sich an den Nestoren der abendländischen Bildungsgeschichte, von Herodot bis Walther von der Vogelweide und von Goethe bis Thomas Mann, zu orientieren und das Publikum mit provozierenden Klassikerinszenierungen zu quälen, da fällt Hofmanns Eigensinn aus dem Rahmen. Seine im Zeichen der Grausamkeit stehende Imagination ist beinahe antizivilisatorisch und barbarisch wie die Themen, die er behandelt. Fast hört man den Comte de Lautréamont sagen: "Meine Dichtkunst wird nur darin bestehen, den Menschen, dieses Raubtier, mit allen Mitteln anzugreifen und mit ihm den Schöpfer, der ein solches Ungeziefer nicht hätte erzeugen sollen" - mit dem Unterschied freilich, daß bei Hofmann die Frage nach Gott und nach metaphysischen Entitäten nie gestellt wird. Schuld ist bei ihm immer persönlich beziehbar, seine Figuren erwerben Schuld durch Handeln oder Unterlassen. Der Erzähler Gert Hofmann läßt seinen Figuren keine Ausflucht; wo sie zu verdrängen suchen, werden sie unerbittlich in die Selbstvernichtung getrieben.

Gleichwohl ist Hofmanns Systemstelle im nachkriegsdeutschen Literaturkanon genau zu bestimmen - ein Versuch soll hier unternommen werden. Der Hinweis auf Thomas Bernhard ist schon früh in Rezensionen und sicherlich zurecht erfolgt, das "Theater der Grausamkeit" wäre zu nennen, die Artaud-Inszenierungen Peter Brooks, die Seelendramen Henrik Ibsens, inszeniert etwa von Peter Stein, das politische dokumentarische Theater, auf dem die Szene zum Tribunal wird, oder die zynische, abstoßende, schockhafte und darum gerade faszinierende Theaterarbeit Heiner Müllers: Man denke an sein >Greuelmärchen< "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" (1979), wo er die grausam fortzeugende Gewalt in der (Fürsten-)Erziehung beschreibt. Ebenso wie Heiner Müller und Thomas Bernhard nimmt Hofmann überall die gequälte und gepeinigte Kreatur wahr, deren abgründige Existenzverzweiflung und deren bitterer Lebensekel geradezu lustvoll zelebriert werden - Erkenntnis- und Beschreibungsskrupel kennt der Autor Gert Hofmann nicht.

Das gespannte Reden

Ein elementarer Schmerz, der über die Nervenbahnen ins Gehirn geleitet wird und dort gewaltige, immer neue Sensationen auslöst, soll sich auf den Rezipienten übertragen und seinen natürlichen Tonus bis zum Spannungsschmerz herabsetzen. Dieser Erregungsübertragung dient auch die von Hofmann bevorzugte Sprechhaltung: das >gespannte Reden<. Der Literaturkritik ist vielfach bereits aufgefallen, daß Hofmanns Prosa vornehmlich in der "Gegenwartsform" (Hieber, 152) gehalten ist. Es wurde die Auffassung vertreten, daß das Erzählen im Präsens die Funktion habe, "die Einebnung von Vergangenheit und Gegenwart" und die "Aufhebung der räumlich-zeitlichen Distanz zur Erzählgegenwart mittels Präsens" (Hartmann, 115/112) zu betreiben. Im Gegensatz zu dieser Position wird von mir jedoch die Auffassung vertreten, daß Hofmanns Bevorzugung der Tempusgruppe I (Präsens, Perfekt, Futur) keine primär zeitliche Funktion hat, sondern eine erzählstrategische: Sie soll den Leser in eine >gespannte< Rezeptionshaltung versetzen. Unsere Aufmerksamkeit soll aktiviert, unsere Haltung gestrafft sein, unsere Sinne sollen alarmiert werden. Es wird wohl zutreffen, daß mit der Wahl des Präsens auch eine "zeitliche Einebnung" (Hartmann, 109) erreicht und der - bei Erscheinen - bald dreißig Jahre zurückliegende Tag der deutschen Kapitulation in "Unsere Eroberung" (1984) dadurch >präsenter< wird. Doch die Textgrammatik hat für die Tempora «SSUN»andere«SSNO» Funktionen bestimmt. Sie unterscheidet zwei Tempus-Register: Besprechen und Erzählen. Im Modus des Besprechens dominieren die Tempora der besprochenen Welt (Tempusgruppe I), im Modus des Erzählens die Tempora der erzählten Welt (Tempusgruppe II: Präteritum, Plusquamperfekt). Die besprechenden Tempora drücken das semantische Merkmal "Bereitschaft" aus, die erzählenden Tempora können durch das Merkmal "Aufschub" gekennzeichnet werden. (vgl. Weinrich, 198ff.). Hofmanns Prosa signalisiert diese "Bereitschaft" und fordert sie vom Leser ein. Seine Figuren schildert er in einer alarmierten inneren Disposition und zwingt uns dieselbe Haltung auf. Er gönnt dem Leser kaum Ruhephasen, erschöpft legt man das Buch beiseite.

Die Bevorzugung der >besprechenden Tempora< durch Hofmann signalisiert eine Sprechhaltung von beträchtlicher Spannung: Das Präsens hat als Leittempus die Funktion, den Rezipienten in Anspruch zu nehmen und die permanente Bedeutsamkeit des Erzählten zu suggerieren. Gert Hofmann ist keine Epiker, die "ruhige Besonnenheit des Erzählers" ist ihm fremd, er verwendet kaum die Erzähltempora, die dem Rezipienten eine entspannte Rezeptionshaltung nahelegen würden:

«LR13»"Ich bin kein epischer Typ; die Behaglichkeit und Behäbigkeit des Romanerzählens ist mir zuwider. Ich bin nicht einer, der die Wirklichkeit liebevoll detailliert aufnimmt. Ich habe keinen betulich-umherschweifenden Blick. Mein Element ist die dramatische Spannung. Ich habe eine hektische Weltsicht." (in: Kosler, 38)

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Der Tempusgebrauch weist den Autor Gert Hofmann als geradezu "ungemütlichen" Erzähler aus, der permanent im Spannungsmodus verbleibt und dadurch seine Rezipienten dauerhaft beansprucht. Das macht Hofmanns Erzählungen so anstrengend.

Der Beobachter

Ein unscheinbares Ereignis, ein winziger Auslöser kann Hofmanns Figuren aus der Bahn werfen, in einen Taumel der Verzweiflung und einen Strudel des Verderbens treiben. Seine Gestalten sind selbstmordgefährdet, dem Alkohol verfallen, sie fügen sich selber körperliche Schäden zu, um die Zonen der Empfindsamkeit aus ihrem Körper zu schälen. Ihre Widersacher sind vielfach emotionslose, dickfellige Gestalten, die sich an den Qualen der Kreatur weiden, die bereit sind, selbst zu quälen und der Entmenschlichung zum eigenen Vergnügen Vorschub zu leisten. Das Selbstwertgefühl vieler Figuren ist stark herabgesetzt, sie haben das Gefühl, daß ihnen die Kontrolle über ihr Leben entgleitet. So ergeht es Fuhlrott in dem Roman "Unsere Vergeßlichkeit" (1987), der sich nicht mehr daran erinnern kann, ob er sein Sofa schon abgestaubt hat oder nicht und den diese Ungewißheit zur Verzweiflung bringt: "keiner hat ihm beim Staubwischen zugesehen" (88). Ein "Vergessensloch" (86) droht ihn zu verschlingen. Ihm fehlt die Instanz eines Beobachters, der sein Tun und Handeln und damit seine Existenz beglaubigen könnte:

«LR13»"Und nun der Schrecken seiner (scil. Fuhlrotts) Vergeßlichkeit, so geht meine Konstruktion. Da fällt ihm ein, daß er das Dilemma vielleicht hätte vermeiden können, wenn ein anderer Mensch, er sagt: ein «SSUN»Mitmensch«SSNO» mit in seinem Zimmer gewesen wäre, welchen er hätte fragen können: Habe ich das Sofa nun oder nicht? und mit dessen Hilfe er den Sachverhalt vielleicht hätte rekonstruieren können. (...) Jemand, der Fuhlrotts Taten bezeugt" (101).

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Hofmanns Roman liest sich streckenweise wie eine erzählerische Umsetzung der Theorie der Radikalen Konstruktivisten, der zufolge eine Welt ohne Beobachter nicht existieren kann. So vertritt der Soziologe Ulriche Sonnemann in seinem Buch "Tunnelstiche" die Auffassung, daß es Geschichte nur gebe, solange die Ereignisgeschichte überliefert werde. Gibt es keine Zeugen mehr, so gibt es auch keine Geschichte mehr. Der atomare Overkill könnte der Weltgeschichte somit ihr absolutes Ende bereiten, denn mit der Welt würden auch alle Vergangenheiten verschwinden. Für den Menschen hieße dies: niemals gewesen zu sein. Das Beobachten spielt nun aber bei Hofmann eine ganz herausragende Rolle. Nicht nur, daß er seine Leser durch die spezifische >Besprechsituation< in die Rolle des Voyeurs hineinzwingt, auch die Figurenkonstellation und die räumliche Organistion seiner Texte vermitteln dieses Beobachten. Die Voyeure bei Hofmann sind Täter durch Unterlassen, ihr Schauen ist niemals beschaulich, sondern abgestumpft, leer, rezeptiv oder geil, ja gewissenlos. Besonders eindrucksvolle und diese These verdeutlichende Texte sind "Auf dem Turm" (1982), "Motte" (1991) oder "Die Nacht" (1991). In der Erzählung "Die Nacht" haben sich "zwei junge Männer, Indios oder Mestizen, vielleicht Brüder" (66) eine besondere Tortur einfallen lassen. In halb öffentlichen, halb geheimen Arenen mit Hinterzimmeratmosphäre, Theatersälen, Scheunen oder Reithallen bieten sie dem zahlenden Publikum ein entsetzliches Schauspiel, ein "Massaker", ein "Schlachtfest": "Ein Bruder peitscht den anderen aus, zerfleischt ihn, richtet ihn zu" (73). Ein Erzähler legt von diesem Ereignis Zeugnis ab, der geschäftlich in Peru auf Reisen ist und vom Sog der in die "Vorstellung" (67) strömenden Männer, "alle aus den Unterschichten" (68), ergriffen wird. Und er sieht "das Letzte, was man sehen will: Eine von allen Seiten gespiegelte Tortur, vielleicht einen Brudermord" (73). Doch alle schauen hin, und das gräßliche Ereignis mündet in einen kollektiven "Blutrausch" (73), schweißt die Besucher zu einer ekstatischen Gemeinschaft zusammen. Das Publikum stimmt einen "dunklen Gesang" (74) an, um das Grauen besser ertragen zu können. Aber niemand gebietet dem Entsetzlichen Einhalt, im Gegenteil: Der Erzähler folgt dem "Künstler"-Paar in andere Ortschaften, schaudernd fasziniert, angstschweißerregt und in einer Weise gefangen genommen, daß er sich die Frage nach seiner Schuld durch Unterlassen gar nicht mehr stellen kann. Er ist auf die Wiederholung und Ritualisierung des unter Kunstverdacht gestellten, nunmehr also ästhetischen Ereignisses aus, auf die intensive Erfahrung des Selbst beim Anblick des geschundenen Körpers des anderen.

Das Abnorme in der Kontinuität des Normalen

Was hier im Untertitel als "Ein Traum" bezeichnet wird, kann - literarhistorisch gesehen - als Textreferenz auf Kafkas Erzählungen "In der Strafkolonie" (1914) und "Auf der Galerie" (1916/17) gelesen werden. Kafka ist hier als ein Beipiel für eine >Tendenz< in der Literatur zu sehen, die das Abweichende, Abnorme und Pathologische in die Kontinuität des Normalen stellt. Am stärksten ist Hofmann dort, wo er so tut, als sei der chokhafte Einbruch des Schrecklichen in die Welt gar nicht weiter aufgefallen, als würde die entsetzliche Ausnahme nur den gewöhnlich geltenden Regelfall bestätigen. So liest man die emotionslose Beschreibung von einem Tötungsfall in dem Roman "Vor der Regenzeit" (1989):

«LR13»"Einmal, sagt der Onkel (...), Billig hatte eben wieder gestochen, in seinen Schenkel, glaube ich, aber mein Bruder fühlt noch nichts, seine Nervenstränge haben den Stich noch nicht weitergeleitet, er denkt, der Schmerz sitzt im rechten Arm, während er längst im linken Schenkel sitzt. (...) Jedenfalls, sagt er, stach Billig meinen Bruder, nachdem er ihm die rechte Hand und - ungefähr in dieser Reihenfolge - den linken Schenkel und den rechten Arm und einiges andere durchstochen hatte, in den Bauch, in die Därme." (243/245)

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Mit klinischer Kälte beschreibt der Onkel, wie sein eigener Bruder vor seinen Augen hingerichtet wird. Hans Hartung, zu Gast auf der Hazienda seines Bruders Heinrich im bolivianischen San Agustin, wird von dem Polizisten Billig bestialisch abgeschlachtet, ohne daß der Bruder ihm zu Hilfe kommt, angeblich, weil er keine Hilfe gewollt hat (vgl. 244). Hans ist für die Indios und für Teile der bolivianischen Presse eine charismatische Erlöserfigur, er ist schon als Gymnasiast in oppositionellen Gruppen tätig gewesen, von der Geheimpolizei halb totgeschlagen und für viele Jahre in eine Irrenanstalt gesteckt worden. Der Ermordung von Hans ist ein Kampf zwischen den Brüdern vorausgegangen, "eine stille, aber ungeheuerliche Auseinandersetzung" (211). Hans, der Revolutionär, erzählt seinem Bruder Heinrich von seinen Überzeugungen und Hoffnungen, doch Heinrich antwortet ihm nur mit Schweigen und Gähnen:

«LR13»"Da geht ihm [scil. Hans] plötzlich das Utopische an seinen Überzeugungen auf. Er kommt ins Stocken, sucht nach neuen Glaubensgründen, aber in seinem Kopf sind weit und breit keine Glaubensgründe mehr zu erblicken. Er hat sie mir alle vorgelegt, ich habe sie alle totgegähnt" (213).

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Mit diesem Gähnen, glaubt Heinrich, hat er seinen Bruder umgebracht. Er hat ihm jeglichen Lebensmut und Lebenssinn, jegliche Heilsgewißheit genommen: "Alles", sagt Hans, was ich gehabt habe, hast du mir zerstört" (213). Nach elf Jahren Trennung gibt es zwischen den Brüdern keine einzige versöhnliche, herzliche oder auch nur vertrauliche Geste, die pathologisch gestörte Kommunikation mündet in den Tod von Hans. Diese todbringende, zerstörerische Kommunikation ist in vielen Konstellationen Hofmanns präsent, man denke an den Vater in "Unsere Vergeßlichkeit", der täglich auf den Anruf des Sohnes wartet: "Selbst wenn er nur in den Hörer atmet und angeblich «SSUN»ruhig zuhört«SSNO», sind seine Zweifel und Vorbehalte" für den Sohn "deutlich vernehmbar" (15f.). Oder man denke an den Vater in Hofmanns Erzählung "Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga" (1978), der sich - im Gegensatz zur Vatergestalt im biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15) - kalt und abweisend verhält und "mit Donnerstimme" befiehlt, "seinen schwierigen Sohn aus dem festlichen Saal zu entfernen" (39). Wiederum kann eine Parallele zu Franz Kafka gezogen werden, zum "Brief an den Vater" (1919), der die Ursituation von Vater und Sohn und ihren "Gegensatz" (Kafka, 194) thematisiert. Der Sohn in Kafkas Brief ist ebenso wie Ego in Hofmanns Roman "ohne Selbstvertrauen" (186) und kann, ebenso wie dieser, keine Unterstützung seiner literarischen Pläne erwarten. Hier wie dort ist eine einseitge Kommunikation auffällig: Die Söhne wollen die Väter zum Dialog zwingen, aber die Väter antworten nicht. Kafka bedauert in seinem Brief, den "Eltern nie >wirklich dauernde Freude< bereitet zu haben, weil der Vater >das Eigentliche, was ich will, nicht anerkennen< könne" (205). Er erfährt die Ablehnung des Vaters als Demütigung: "Du warst für mich das Maß aller Dinge" (216). Vater-Sohn-Beziehungen in Hofmanns Werk sind Felder der Grausamkeit. In "Bakunins Leiche" (1980) findet eine Auseinandersetzung des Vaters des Anarchisten Michael Bakunin mit dem abwesenden Sohn statt. In "Veilchenfeld" wird das von Otto Ludwig bekannte Bild des Dachdeckers aufgenommen, der den Sturz des Sohnes nicht verhindern kann.: "Der Vater muß", um nicht selber vom Dach zu stürzen, "den Sohn abschütteln (...), ihm einen Stoß geben" (145). In der "Denunziation" beschimpft der Vater seinen Sohn als "Fanatiker". In der Erzählung "Lenz" versagt der Vater ausgerechnet beim eigenen Sohn und enthält ihm die so oft gepredigte christliche Nächstenliebe vor.

Eine Welt ohne Glück

Die Bücher von Gert Hofmann, mit Ausnahme vielleicht nur des späten Lichtenberg-Romans "Die kleine Stechardin" (1994), sind durch Abwesenheit von Glück charakterisiert. "Das Thema Glück", so Hofmann,

«LR13»"hatte seine große Zeit im 18. Jahrhundert. Aus der Zeit stammt auch die amerikanische Verfassung, in der das Glück verankert worden ist, und was ist daraus geworden? Ich zeige Menschen in Konflikten und in extremen Situationen, hier hat das Glück keinen Platz. Da geht es nicht ums Glücklichsein, sondern ums Überleben" (Kosler, 50).

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Aber auch das Überleben kann nicht gesichert werden, und das Glück ist selbst in seinem Roman mit dem Titel "Das Glück" (1992) von zweifelhafter Substanz: Glücklich ist nur der kleine Lichtenberg, der wie ein Alb auf seiner minderjährigen Geliebten hockt, sich an ihr weidend.

Alle Texte in Hofmanns Erzählsammlung "Tolstois Kopf" (1991) schildern mißglückte Lebensläufe. Es ist die Gemeinsamkeit sehr vieler, ja fast aller Figuren dieses Bandes, daß sie mit ihrem Leben nicht zurecht kommen. Ihr Scheitern wird auf dreifache Weise dargestellt: im Beruf, im Privatleben und im innerpersonal- psychischen Raum. Beruflich scheitert Hans in der Erzählung "Empfindungen auf dem Lande" (1985), ein Titel, der einen Kontrapunkt zu Beethoven setzt, indem er auf den ersten Satz der "Pastorale" (1801) referiert, der mit "Erwachen und glückliche Empfindung auf dem Lande" überschrieben ist. Hans der Polizist, wird strafversetzt und verliert die Kontrolle über sich. Der Ich-Erzähler in "Die Enge" (1986) hat seine Firma in wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht und muß einige Mitarbeiter entlassen. Der Alt-68er in der Erzählung "Freibank" (1991) lebt von der Sozialfürsorge und ist ohne festen Wohnsitz. Der Dichter Quasener in der Erzählung "Arno" (1987) lebt am Rande der Gesellschaft, von seinen Zeitgenossen vergessen oder ignoriert. Nur Arno, der Nachbarsjunge, erwartet sehnlichst seinen Tod. Hans, der Polizist, ist auch privat gescheitert: Er hat seine Frau an einen anderen verloren. Und bei der Kellnerin Marie kann er nicht landen. Der Ich-Erzähler in "Die Enge" ist dem Alkohol verfallen und setzt mit der Trunksucht seine Ehe aufs Spiel. Auch die Ehe des notorischen Friedensmarschierers in der Erzählung "Freibank" ist gescheitert, und die Tochter des Dichters Quasener ist schon zum zweiten Mal geschieden. Tolstois Sohn hat schon mehrere geschiedene Ehen hinter sich, seine Familie zerfällt. Fuhlrotts Frau in der Novelle "Fuhlrotts Vergeßlichkeit" (1981) geht mit einem Flötisten fremd: Fuhlrotts Ehe und sein Leben nehmen eine schlimme Wendung. Eifersuchtsdramen sind ein beliebtes Sujet bei Gert Hofmann. Hans, der seine Frau nur in Gedanken betrügt ("Empfindungen auf dem Lande"), ist eifersüchtig auf ihren Geliebten. Vor der Scheidung stehen der Erzähler und seine Frau in Hofmanns Roman "Auf dem Turm":

«LR13»"Und habe, indem ich meine Frau von der Seite her plötzlich scharf ins Auge fasse, den Trennungsentschluß auch schon auf den Lippen, doch verkünde ich ihn dann wieder nicht. Die Verlogenheit, die, nun schon seit Jahren, zwischen uns herrscht, herrschen muß!" (96)

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Auch "Hutsches Eltern waren geschieden" ("Das Glück", 189). Der Ich-Erzähler in "Vor der Regenzeit" will von seiner Verlobten das Geständnis erzwingen, daß sie ihn betrogen hat. Er ist "besessen von der Idee, (...) die Wahrheit - ha! - aus ihr herauszuholen" (24), doch würde ihn diese Wahrheit niemals zufriedenstellen. Seine krankhafte Eifersucht nährt sich von immer neuen, vermutlich eingebildeten Verdachtsmomenten:

«LR13»"Auf meine Frage, ob sie sich von ihm hat «SSUN»schmieren«SSNO» lassen, antwortet sie weder mit ja noch mit nein. Sie fängt an, ihn zu beschreiben. Erst lacht sie rasch noch wegen des Wortes «SSUN»schmieren«SSNO», das ich aus dem Türkischen übersetzt habe und das natürlich sehr vulgär ist. Ich muß es aber wissen, weil ich sonst umkomme, eine Beschreibung seiner Person genügt mir nicht" (282).

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Grund zur Eifersucht hat Fuhlrott in "Unsere Vergeßlichkeit", weil seine Frau Elisabeth sich "nach siebenjähriger Ehe" mit einem polnischen Sänger einläßt, um ihn "«SSUN»auf raffinierte Art«SSNO» (...) zu befriedigen" (142). Für Fuhlrott beginnt eine entsetzliche Leidenszeit. Grund zur Eifersucht hat auch die Frau des Kinoerzählers, der sich eine Freundin hält. Liebe muß enttäuschen, Erotik tendiert dazu, normverletzend zu sein. So werden homosexuelle Neigungen bzw. Situationen in Hofmanns Romanen häufiger thematisiert. Bei Lichtenberg sind alle Liebesgeschichten ereignishaft: Als Schüler verguckt er sich in den Klassenprimus, den Schneidersohn W. Schmidt (86), als reifer, schon nicht mehr vermittelbarer Mann dann in ein Kind, die zwölfjährige Stechardin. Lichtenberg möchte trotz seiner "Häßlichkeit" als Liebhaber erfolgreich sein. Aber Erfolg haben nicht einmal die normal entwickelten Figuren. Dem Schlachter Netzer ist die Frau mit einem anderen durchgebrannt, nur die wahnsinnige Tochter Motte ist ihm geblieben. Vater und Tochter suchen den gemeinsamen Tod: dem partiellen Selbstverlust im Wahnsinn folgt der völlige Selbstverlust im Freitod. Auch Bauer Stief in der Erzählung "Die Weltmaschine" (1986) wird, wie vor ihm schon seine Mutter, wahnsinnig. Er stirbt auf schreckliche Weise. Der Dichter Quasener ist schon seit Jahren "nicht mehr richtig wach", sein Verfall wird immer deutlicher sichtbar. Der alte Tolstoi hat Angst, verrückt zu werden, und Fuhlrott schließlich fällt durch seine Vergeßlichkeit in ein gähnendes Nichts. Oft setzt ein schrecklicher Tod den Schlußpunkt hinter ein nicht minder schreckliches Leben: Ein Beispiel ist der "so grauenhaft verendete W. Stief" (99) in "Die Weltmaschine", ein anderes das in ein Lager deportierte jüdische Ehepaar in "Leute in Violett" (1961), ein weiteres Motte in der gleichnamigen Erzählung. Aus "Fuhlrotts Vergeßlichkeit" ist zu entnehmen, daß der Dichter über das gleiche Werkzeug verfügt wie der "Leichenbeschauer" (vgl. 161f.).

Das Scheitern der Kunst

Viele Erzählungen in "Tolstois Kopf" sind zugleich Künstlergeschichten, und die Figuren scheitern auch hier. Es gibt praktisch keine positiven Lebensläufe, und dies bedeutet offenbar, daß für den Erzähler Gert Hofmann das "Leben" immer hochgradig gefährdet ist. Gert Hofmann kann als einer der düstersten Erzähler der deutschsprachigen Literatur gelten. Seine Bücher sind mühsam und quälend durch die Wahl seiner Mittel und Sujets. Dies zeigt nicht zuletzt sein erfolgreicher Roman "Der Kinoerzähler" (1990). Hier dominieren dunkle Farben ebenso wie in dem Roman "Auf dem Turm" und in der Novelle "Die Denunziation" (1979). Tragikomische Merkmale kennzeichnen die Erzählung "Der Blindensturz" (1985), benannt nach dem gleichnamigen Gemälde Pieter Bruegels des Älteren. In dieser Erzählung, in der die Blinden zur Bewältigung eines ästhetischen Programms benutzt werden, geht es darum, den Augenblick festzuhalten, in dem die Blinden in die Grube fallen. Bruegel möchte alles, "was er über die Welt zu sagen hat", in "dieses abschließende und endgültige Bild" hineinlegen (98). Es geht ihm um eine "überzeugende Darstellung des menschlichen Schreis (...). Wunderbare, wenn natürlich auch entsetzliche Ansichten unseres Mundinneren schweben ihm da vor" (98f.), "die rasche Verwandlung der überflüssigen Blinden in ihr wahres und schönes und entsetzliches, uns alle ergreifende Bild" (112). Im "Blindensturz" wird das Makabre zum ästhetischen Erlebnis, wird die Qual der Kreatur mit seltener Intensität und Grausamkeit zelebriert. Die Blinden müssen ihren Sturz üben, sie laufen und fallen und schreien sich ein, ein Anblick, der "die Beschaffenheit der Welt und das Geschick des Menschen wunderbar zusammenfaßt" (119). Die Ästhetik des Häßlichen, die hier entwickelt wird, die starke Kontrastierung des Tragischen und Komischen, entspricht einer "Verwandlung" der "überflüssigen und häßlichen" Kreatur "in ihr wahres und schönes und entsetzliches, uns alle ergreifendes Bild" (112).

Bei Hofmann gibt es keine positiven Gestalten, keine Vertreter der Ordnung, die als Identifikationsfiguren angeboten werden könnten. Bestenfalls sind es - darin der "schöne[n] Literatur" vergleichbar - "eben noch geduldete, eigenbrötlerische, fast schon lächerliche Existenz[en], immer nahe am Bankrott" (Bogen 38, unpaginiert). Weder ist Edgar in "Unsere Eroberung" eine positive Figur, noch Lichtenberg in "Die kleine Stechardin". Mag wohl sein, daß Lichtenberg bei Hofmann sein kleines Glück erlebt, doch zu welchem Preis, auf wessen Kosten? Das Opfer ist die kleine Stechardin, erst Hausmädchen, später Geliebte, ein Kind, "keine dreizehn" (62), als sie bei Lichtenberg einzieht, die kleinen Brüstchen noch im Statu nascendi. Lichtenberg lindert seine sexuelle Not an ihr, sie ist die Schöne, er das Biest:

«LR13»"Was nun kam, war das mühsame und brutale und blutige Geschäft! Am liebsten hätten sie's aufgegeben, doch hatten sie sich schon zu tief in die Sache eingelassen. Es gab nun kein Zurück. Sie lagen im Himmelbett und fühlten sich verloren. Bald zog die Stechardin ihn an sich, bald schob sie ihn weg. Dann rief sie wieder: Laß mich! Nein!, und er wollte schon gehorchen, doch da sagte sie: Ich mein's nicht! Bleib! Sie war entsetzt und fasziniert und hätte gern geweint. Sie erschrak über seinen Buckel, über den sie strich, und über das brutale Ding, das er zwischen den Beinen trug und mit dem er sie bedrängte. Das ging lange so hin" (125).

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Lichtenberg, diese kleine, häßliche "Kröte" (42), dieser Kinderschreck, hat einen großen Buckel hinten und einen kleineren vorn. Er ist nicht das, was sich ein junges Mädchen als Prinzen erträumt, und sehr bald auch bekommt Lichtenberg Konkurrenz durch einen jugendlichen Nebenbuhler, das ganze Gegenstück seines häßlichen Selbst: "Friedrich war ein gerade gewachsener, hübscher Junge mit schönen weißen Zähnen und hellem, fast blondem Haar. Lichtenberg konnte ihn nicht leiden" (201f.). Zwar gelingt es ihm, Friedrich von der Seite der Stechardin zu vertreiben, doch wenig später stirbt sie. Lichtenberg, schon als Kind ein Demonstrationsobjekt, ist als Erwachsener ein Monster: "Mit seinem Buckel und dem schlimmen Gebiß zeigte er sich nicht gern" (28). Der Leser schaut ihm mit Vergnügen über die verwachsene Schulter, auf sein "Gebrechen" (83), an das er immer denken muß, das ihn quält, von dem immer die Rede ist, auf den Buckel, den er zu verstecken sucht. "Bei mir ist alles krank" (17), sagt Lichtenberg und legt eine Liste all seiner Krankheiten an (vgl. 211f.).

Gern gibt Hofmann seine Figuren der Lächerlichkeit preis: "Das Lächerliche ist schrecklich, und das Schreckliche ist lächerlich" ("Der Kinoerzähler", 161). Zum Schrecken und zum Lächerlichen tritt die Tragik hinzu. So erzählt "Tolstois Kopf" von der bitteren Erfahrung, Sohn eines genialen Vaters zu sein, aber an den berühmten Vater niemals heranreichen zu können. Lew Tolstoi ist der Sohn des Verfassers der "Anna Karenina", Leo N. Tolstoi. Der Sohn hat Rußland nach der Oktoberrevolution verlassen müssen und ist, knapp 60jährig, in die Vereinigten Staaten emigriert. Aufgrund der vollkommenen Familienähnlichkeit soll er in Hollywood seinen berühmten Vater darstellen, den er haßt und und den er in einer Novelle einmal als lächerliche Figur dargestellt hat. Der Kopf des jungen Tolstoi gleicht dem des Vaters aufs Haar, doch er ist kleiner, geradezu lächerlich klein. Lew Tolstoi muß als nichtige Variante seines Titanenvaters durchs Leben gehen. Daran scheitern seine Versuche als Künstler und seine Ehe, daran scheitert sein ganzer Lebensplan.

Das Elend eines kleinen sizilianischen Dorfes names Dikaiarcheia ist der Hintergrund des Romans "Auf dem Turm". Hier wird einem deutschen Urlauberpaar eine "künstlerische Vorführung des Todes", eine "Todesnummer" (126) geboten. Das ganze Dorf ist auf den Beinen, um einen kleinen Jungen vom Turm springen zu sehen. In der Erzählung "Motte" liegen die Bewohner der Mutschmannstraße im August 1939 in den Fenstern, um den Abtransport der geistig erkrankten Tochter des Metzgermeisers Netzer zu beobachten. In der "Sammelanstalt" für die "Unheilbaren" (15) sieht Netzers Tochter - "in ihrer von uns allen so gefürchteten Direktheit" (11) - ihren baldigen Tod. Ein Hinweis auf das Euthanasieprogramm der Nazis. Die Bewohner der Mutschmannstraße, von bald sieben Jahren Hitlerdiktatur geprägt, wollen sich, soviel wird deutlich, jedenfalls nicht einmischen: "Wir sehen bloß alles kommen" (15). Sie wissen, ebensogut wie Netzers Tochter ("so verrückt war sie nicht"), daß Motte "nichts Gutes" (15) widerfahren wird.

Entwirft man aus den wenigen Merkmalen ein Psychogramm der jungen Frau, die nicht durch das Euthanasieprogramm der Nazis, sondern durch den Bolzenschußapparat des Vaters sterben wird, so liegt der Schluß nahe, daß ihre Krankheit als eine verständliche, wenn nicht gar adäquate Reaktion auf die dramatischen gesellschaftspolitischen Veränderungen in Nazideutschland zu werten sind: "Die Tschechei haben wir schon übernommen, nun wollen wir auch Danzig noch (...), jeden Tag wird nun der Krieg erklärt" (15f.). Ihr bleibt "angesichts der kommenden Metzeleien" (17) nur die Ausflucht in den Wahnsinn. Eine andere, kollektive Form des Wahnsinns ist im nationalsozialistischen Deutschland bereits zum politischen Alltag geworden. Mit Krankheit und Verzweiflung reagiert auch die Mutter in der Erzählung "Veilchenfeld" auf die mörderischen Verhältnisse in Deutschland: Der Fall des jüdischen Gelehrten Veilchenfeld, der sich am Ende mit einem Mittel gegen "Ungeziefer" (155) selbst aus der Welt schaffen wird, quält "die Mutter, die immer, wenn sie den Namen Veilchenfeld hörte, eine Kolik bekam und am liebsten gar nicht mehr an ihn gedacht hätte" (90). Anders ist das Verhalten ihres Sohnes Hans, der ein kindlich unbefangenes, nach Auffassung des Vaters "krankhaftes" Interesse (103) an dem stigmatisierten Veilchenfeld entwickelt und ihm das Gift gegen Ungeziefer besorgen wird (noch kindlich naiv oder doch schon den Zweck kennend? - jedenfalls ist Hans "ganz lustig danach"; 156). Der Vater und Hausarzt Veilchenfelds wird die Wohnung und die Leiche seines Patienten in einem grauenhaften Zustand vorfinden: "dieses unerwartet Beunruhigende, das plötzlich auf den Wänden und den Stühlen und den Lampen des Zimmers liegt" (172), steht im Kontrast zu den eschatologischen Erwartungen des Lesers, der alles so kommen sieht und der mit zeitlicher Distanz auf die schwärzeste Periode der deutschen Geschichte zurückblicken kann. Das Beispiel von Hans zeigt, daß der Einbruch des Bösen in die Welt die Schuldfrage zuweilen offen läßt. Eine psychologische Motivierung seines Verhaltens erfolgt nicht, die Begebenheit bleibt unerhört. Mit dem Abtransport der sterblichen Überreste Veilchenfelds beginnt und endet Hofmanns Erzählung: "Unser Philosoph ist plötzlich gestorben, unser Leichenwagen hat ihn abgeholt" (185). Daß der plötzliche Tod am Ende einer vorhersehbaren, zwangsläufigen Entwicklung steht, somit motiviert ist und nicht eigentlich "plötzlich" erfolgte, wird - zumindest auf der Ebene der Figuren und in der dargestellten Welt - nicht diskutiert.

Dieses Kunstkonzept, das die Welt nur ästhetisiert, aber nicht verbessert, ist im Grunde radikal deskriptiv. Es ist nicht ideolgisch besetzt, weder im Sinne einer Fortschrittsutopie noch im Sinne einer "negativen Dialektik". Es hat vor allem den Tod des Individuums - jedes einzelnen - im Blick: "Der Tod ist eine unveränderliche Größe" (206), von dessen Entgültigkeit Lichtenberg überzeugt ist. Lichtenberg "war überzeugt, der Mensch samt Seele höre mit dem Tode auf zu sein" (18).

Gibt es also keine positiven Elemente und Figuren in Hofmanns Werk? Es scheint so. Selbst die Eltern von Hans und Grete in der Erzählung "Veilchenfeld", bei Leibe keine begeisterten Anhänger des Hitlerismus oder auch nur bloße Mitläufer, beugen sich schnell dem Druck und den alltäglichen Demütigungen im Faschismus. Sie reduzieren den Umgang mit Veilchenfeld auf ein Minimum. "Ein böses Märchen", das "ohne die moralische Verurteilung der Täter" (Kosler) auskommt. Gert Hofmann ist kein Moralist, viel wahrscheinlicher ist er ein "Misanthrop" (Auffermann). Er schildert die Normalität einer grausamen Welt, die amoralisch, alltäglich infam, niemals verlässlich und trostlos bieder ist. Seine Künstlerfiguren sind keineswegs moralischer oder besser als sein übriges Personal. In der Erzählung "Der Blindensturz" schildert Hofmann "die erhabene Rücksichtslosigkeit der Kunst, auch und gerade des großen Künstlers, dem Wirklichkeit, Leben, Leiden nur Materialien sind" (Baumgart). Der Maler kann den Schrecken nur noch ertragen, indem er ihn malt - zu Linderung der Not vermag er, "eingedenk der Vergeblichkeiten" (99), nichts beizutragen. Der Maler will - ebenso wie der Schriftsteller - festhalten, "was der Mensch ist" (99). Er kann "keinen zerstörten Menschen sehen, ohne an seine eigene Zerstörung zu denken" (94).

In einer Welt, in der die Zukunft nur böse Überraschungen und Gewißheiten bereithält, bekommt der Schrecken die Qualität des Durablen, gerinnt der Dezisionismus der Moderne zur Leidensgeschichte. Schlaflosigkeit manifestiert sich - wie in der Novelle "Die Denunziation" - als Ausdruck permanenter Lebensangst und Schmerzensgewißheit. Der Geist setzt sich in die Erwartung neuer Qualen und wird von ihr absorbiert. Der körperlich und seelisch unkontrollierbare Schmerz emanzipiert sich von jeglichem auslösenden Ereignis, wird autonom, wird zur lustvollen Schmerzempfindung. Hofmanns Figuren fordern das Böse heraus, pochen auf ihren Anteil am Grauen, wollen die bloß graduellen Übergänge auf der Skala der negativen Empfindungen hinter sich lassen. Ihr Paradiesesgarten ist ein subtiler "Garten der Qualen" (Octave Mirbeau), wie Hieronymus Bosch ihn amschaulicher nicht hätte gestalten können.

Literatur:

Die selbständig publizierten Romane und Erzählungen werden - mit Ausnahme von "Fuhlrotts Vergeßlichkeit", "Die Weltmaschine" und "Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga" - nach den Erstausgaben zitiert, die unselbständig erschienenen Erzählungen nach den beiden Sammlungen "Gespräche über Balzacs Pferd" (enthält "Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga", "Casanova und die Figurantin", "Gespräche über Balzacs Pferd", "Der Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen Verein") und "Tolstois Kopf" (enthält "Motte", "Empfindungen auf dem Lande", "Freibank", "Die Enge", "Die Nacht. Ein Traum", "Unterhaltung, an Bord der Titanic, aus Anlaß ihres Untergangs, zwischen John Astor und seinem Friseur", "Die Weltmaschine", "Arno", "Fuhlrotts Vergeßlichkeit", "Tolstois Kopf"). - Vgl. die Bibliographie.

  • Verena Auffermann, "Geschichten von Männern und Söhnen. Gert Hofmann, ein Meister des Schreckens". In: Süddeutsche Zeitung, 30.11./1.12.1991.
  • Reinhard Baumgart, "Der Blindensturz". In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.5.1985.
  • Bogen 38, Gert Hofmann - Schaut mal, so habe ich die Sache erlebt. München 1992.
  • Lily Maria von Hartmann, "Auf der Suche nach dem Autor. Erzählstrukturen im Werk Gert Hofmanns". In: Kosler 1987: S. 105 - 125.
  • Jochen Hieber, "Die Schrecken der Welt am Tage Null". In: Kosler 1987: S. 149 - 153.
  • Franz Kafka, "Brief an den Vater". Faksimile. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Joachim Unseld. Frankfurt 1994. (Fischer Taschenbuch 12436).
  • Hans Christian Kosler (Hg.), "Auskunft für Leser". Darmstadt, Neuwied 1987 (Sammlung Luchterhand 725).
  •   ders., "Das Krüppelchen schlägt zurück". In: Süddeutsche Zeitung, 5./6.3.1994.
  • Isidore Ducasse Comte de Lautréamont, "Werke. Die Gesänge des Maldoror. Dichtungen. Briefe". Berlin 1985.
  • Otto Ludwig, "Zwischen Himmel und Erde". Erzählung. Frankfurt 1856.
  • Ulrich Sonnemann, "Tunnelstiche". Frankfurt 1987. Vgl. meine Rezension in der Süddeutschen Zeitung vom 10. 3. 1989.
  • Harald Weinrich, "Textgrammatik der deutschen Sprache". Mannheim u. a. 1993.

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