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Ist die Lyrik noch poetisch?

Zur "aktuell notorischen Baisse" der Gattung

Von Lutz Hagestedt

Die Lyrik ist, wie so vieles, vor der Jahrtausendwende wieder ins Gespräch gebracht worden. Das Jubiläumsheft 600 der Zeitschrift Merkur fordert: "In prosaischen Zeiten sollte man Gedichte lesen." Ein suggestiver Satz: Er behauptet, daß die Literatur aufregend sei, das Leben aber langweilig und nüchtern. Er referiert auf die alte Vorstellung, der zufolge die Kategorien ›Poesie‹ und ›Prosa‹ nicht nur den ästhetischen Raum bezeichnen, sondern auch die Bereiche des sozialen Lebens und der Natur. Traditionell kam der Poesie die Funktion zu, die ›schöne Realität‹ zu zeigen, der Prosa, die ›Totalität‹ des Lebens abzubilden, auch das, was der Poesie verschlossen blieb, das Häßliche, Armut und Schmutz, der Körper und seine Funktionen. In prosaischen Zeiten, so also Merkurs Forderung, soll man nicht auch noch prosaische, sprich farb- und phantasielose, ästhetisch ›häßliche‹ Literatur lesen, sondern Poesie. Elitär sprechen die beiden Herausgeber des Merkur von der "Crème der deutschsprachigen Lyriker", die sie in ihrem Heft versammelten.

Aber ist die heutige Poesie noch ›poetisch‹? Ist sie nicht lange schon ›prosaisch‹ geworden? Denn "prosaisch" meint ja auch die in Prosa übersetzte Poesie. Das Formbewußtsein und Formvermögen der gegenwärtigen Lyrikproduzenten, dies wäre eine gängige These, hat seit den fünfziger Jahren stetig abgenommen. Was uns die Dichter als Lyrik präsentieren, ist weitgehend zur formlosen Prosa geronnen. Ein Blick in Karl Otto Conradys "Großes deutsches Gedichtbuch" (Neuausgabe 1991) zeigt, daß kaum ein zeitgenössischer Autor das reich entfaltete Reportoire der Dichtung zur Geltung bringt. Poetische Ordnungen wie Akzentuierung, Rhythmus, Lautung, Melodie, Versmaß, Strophe, Reim, Alliteration, Gattungstradition werden kaum noch gepflegt. Einzig das Sonett ist im Conrady häufig vertreten: Es gilt als die höchste Entwicklungsstufe abendländischer Poesie und fordert noch immer den Ehrgeiz der Autoren heraus, mit ihm ihr Meisterstück abzulegen.

Damit aber ist es mit dem guten, ehrbaren Handwerk vorbei. Was Lyriker produzieren, ist Lyrik aufgrund unserer Sehgewohnheiten: Wenig Text auf viel weißer Fläche. Gereimt wird nur noch in den Wetterprognosen der F. A. Z.: "Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die gestern schon sich mir gezeigt. Welch Walten wohl aus Dunst und Nebel um mich steigt", hieß es in holpriger "Faust"-Paraphrase in der Ausgabe vom 17. April 1999. Schon honetter das Wetter tags zuvor, wenn auch nicht ganz rein im Reim: "Der Regen macht das Grün so grün, wie wir es nicht zu denken wagen. Das Herz mag einem übergehn und andere die Vielfalt noch erschlagen." Nicht nur die Wetter-Redaktion der F.A.Z. ist reimfixiert: Am 29. November 1994 startete Dana Horakova, die Kulturchefin der größten deutschen Boulevardzeitung, eine Kampagne gegen die Strukturschwäche der deutschen Lyrik: "Welcher BILD-Leser kann noch reimen? fragte sie und forderte alle Verseschmiede der Nation auf, sich an ihrer großen Reim-Aktion zu beteiligen. Knapp drei Wochen lang publizierte sie die bemühten Elaborate deutscher Hobbydichter, bis am 17. Dezember 1994 ein Profi – Robert Gernhardt – dem grausamen Treiben ein Ende setzte.

Mau, trostlos, ungereimt also auch die gereimte Lyrik der Gegenwart? Das Szenario, das ich hier entwerfe, arbeitet mit einem sehr traditionellen Lyrikbegriff. Es bedarf der Differenzierung. Es gibt – vereinzelt – auch Lyriker, die in ihrem gesamten poetischen Werk Ordnungssinn und ein hohes Formbewußtsein dokumentieren, ohne in jedem Einzeltext auf ein tradiertes Repertoire zurückgreifen zu müssen. So unterschiedliche Autoren wie Robert Gernhardt, Ernst Jandl, Karl Krolow, Peter Rühmkorf arbeiten allgemein form- und genrebezogen. Häufig auch referieren sie explizit auf Einzeltexte. Ihre Parodien auf, ihre Kontrafakturen von – zum Teil berühmten – Referenztexten münden neuerdings sogar in "Verbesserungen" lyrischer Texte. 1990 fragte Robert Gernhardt in seinem Buch "Gedanken zum Gedicht", ob man Lyrik verbessern könne. Ketzerisch machte er sich ans Werk, und seit einigen Jahren tritt er öffentlich als Lyrikwart hervor. Der Rezipient ist hier in der einzigartigen Situation, quasi das Besteck der Dichter, ihr Handwerkszeug und die Verwendung ihrer Mittel demonstriert zu bekommen.

Der Reim ist nur eines unter vielen Ordnungssystemen der Lyrik, und nicht unbedingt das wichtigste. Die Fragen nach formalen Kriterien, nach Handwerk und Materialität von Dichtung, haben gegenwärtig Hochkonjunktur. Jörg Drews schreibt in seinem "Merkur"-Aufsatz über Marcel Beyer, Thomas Kling und Ulf Stolterfoht: "Unabhängig von allen gravierenden Unterschieden zwischen den Versen dieser Autoren in den letzten Jahren ist ihnen gemeinsam, daß es in ihnen ein neues Verhältnis zur gebundenen Rede gibt. Erstens gibt es eine Wiederaufnahme etwa der Terzine oder der Sestine oder auch des Sonetts, die aber nicht einfach als Flucht in den sicheren Hafen der alten Formen anzusehen ist, sondern entspannt, versuchsweise und unideologisch ist. Zweitens gibt es den Versuch, etwas aufzubauen, was die Gedichte in die Nähe gebundener Rede bringt, aber sie nicht durch absolute strophisch-metrische Regelmäßigkeit erstarren läßt." Soweit Drews. Er sagt nicht, wohin das führen soll, was er sich davon erwartet. Er ist es auch, der von der "aktuell notorischen Baisse" der Gattung spricht.

"Die Sprache der Poesie lernen" ist ein Postulat, das Kenneth Koch in seinem Aufsatz erhebt. Auch das kann Professionalisierung bedeuten: Wissen, wovon man spricht. Sich durch Nachahmung die "Elemente der poetischen Sprache" erschließen, sich den "erklärten Willen" bewußt machen, "etwas ganz bestimmtes zu tun". Koch, Jahrgang 1925, lehrte Literaturwissenschaft an der Columbia University in New York. Er hat mit dazu beigetragen, daß in Amerika die Institution des "Writer-in-Residence" eingerichtet wurde. In "Creative-writing-Kursen" werden Studenten dazu angeleitet, sich ihrer Mittel und Fähigkeiten bewußt zu werden und sie systematisch zu erweitern. Wir Deutschen haben uns bislang schwer damit getan, den Nimbus abzuschütteln, den Dichter und Dichtung für uns nach wie vor haben. Insgeheim glauben wir noch immer an das Originalgenie, das aus sich selbst heraus Poesie schafft und des Lehrens und Lernens nicht bedarf. Erst wenige Institutionen tragen der Erlernbarkeit des Schreibens Rechnung: Das Deutsche Literaturinstitut Leipzig etwa, die Universität-Gesamthochschule Essen mit ihrem Programm "Poet in Residence", das "Studio Literatur und Theater" der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

Der Differenzierung dient auch ein prüfender Blick auf die fraktionslosen Lyriker unserer Tage. Peter Härtling, dessen "Gesammelte Werke" bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen, hat seit 1952 knapp 600 Gedichte vorgelegt, der erste eigene Band, "poeme und songs" erschien 1952. Scannt man die gesammelten "Gedichte", die soeben als Band acht der Werkausgabe in chronologischer Folge erschienen sind, so fällt auf, daß Härtling das gereimte, liedhafte, in gleichförmige Strophen gegliederte Gedicht durchaus als Alternative zum Prosagedicht schätzt und pflegt. Härtling reimt zwar selten, aber doch stetig und über die Zeitläufte hinweg (mit Ausnahme vielleicht der siebziger Jahre), und schon sein erstes publiziertes Gedicht, "Quichotte", ist gereimt. Im diachronen Befund ergibt sich eine lockere, zwanglose Folge solch gereimter, gebundener Rede: "Wandlung" (1959), "Der Mohr", "Zwei Traumfiguren", "An den Weber Jean Lurçat", "Für drei Hände", "Römischer Fisch" (alle 1962), "Gedicht mit Mond" (1983), "Zwischen den Altern", "Inselnacht", "Spätes Liebeslied", "Eine zweite Wolkenleiter", "An eine geschätzte Person", "Nach der Klaviersonate B-dur von Franz Schubert" (1990 – 1993). Härtling sei sich "des Gemachten eines Gedichts bewußt" und wisse, "wie er diesem Gemachten im Gedicht genügen" könne, schreibt Klaus Siblewski in seinem Nachwort. Im übrigen geht der Herausgeber auf Härtlings Formenrepertoire nicht weiter ein: Der weitgehenden Absenz tradierter Formen im Gedicht entspricht auch die Absenz einer Lyrikkritik, die noch zu bestimmen wüßte, mit welchen poetischen, mit welchen rhetorischen Mitteln und Tricks die Autoren arbeiten. Kenner wie Alfred Behrmann sind selbst in den Wissenschaften die Ausnahme. Nach dem Rückzug Karl Krolows aus dem Literaturbetrieb und dem Tod Helmut Heißenbüttels ist Robert Gernhardt einer der wenigen aufmerksamen, ideenreichen Begleiter und Förderer auch der Lyrikkritik.

In seinem poetologischen Sammelband, "Minima poetica" (herausgegeben von Joachim Sartorius), treten erwartbar der materiale und der handwerkliche Aspekt der Dichtung in den Vordergrund: "Das griechische Verb poiein, von dem Poesie und Poet abgeleitet sind, bedeutet ja nichts anderes als machen, herstellen, ins Werk setzen", schreibt Sartorius in seinem Vorwort. Gerhard Falkner spricht in seinem Essay von Professionalisierung. Ein Begriff mit vielen Facetten: Professionalisierung wäre den Lyrikern zu wünschen, wenn es bedeutete, das Repertoire der Dichtung beherrschen zu lernen. Die Poetikvorlesungen und Poetikprofessuren, die in einigen Universitätsstädten seit vielen Jahren, zum Teil Jahrzehnten, angeboten werden, könnten hier eine Brückenfunktion übernehmen. Professionalisierung meint aber auch den Beruf des Dichters: Die "Wertlosigkeit des Gedichts" soll überwunden, die brotlose Kunst durch angemessene Honorierung des Dichters honoriert werden. Die Bedingungen des Literaturbetriebs, "einer besonderen Sprache" nur unzureichende Lebensbedingungen zu bieten, dadurch dem Dichter eine "Anwesenheitspflicht in der Szene" aufzunötigen, ihn zum "Lesetourismus" zu zwingen, müssen – so Falkner – verbessert werden. Professionalisierung beträfe auch die Kritik, die wieder lernen müßte zu bestimmen, was der Dichter da eigentlich tut. Die Rezensionen zu Durs Grünbeins neuem Buch zeigen, wie unscharf das Besteck ist, das die Kritik zur Verfügung hat. Da wird vom "klassischen Versmaß" gesprochen, das der Autor verwende – welches meint der Kritiker wohl? Er sagt es besser nicht.

Den Begriff der "Materialität von Sprache" verwendet auch Jörg Drews in seinem "Merkur"-Aufsatz ("Die neue Unersetzlichkeit der Lyrik") – und demonstriert ihn streng abgezirkelt an einigen jüngeren Autoren (Marcel Beyer, Franz Josef Czernin, Ulf Stolterfoth) und einigen gesetzteren Beispielen (Heimrad Bäcker, Karl Mickel, Dieter Roth, Gerhard Rühm, Paul Wühr), Autoren, die – Drews zufolge – einen "Dialog mit der deutschen Geschichte" stiften und eine präzise Standortbestimmung des lyrischen Ich ermöglichen, eine Forderung an die Lyrik, die auch Harald Hartung in seiner Anthologie "Jahrhundertgedächtnis" erhebt. Man ist des ort- und zeitlosen Sprechens müde, man ist des austauschbaren, versatzstückhaften, biederen Jedermann-Tons überdrüssig, der als formales Debakel die Anthologien der siebziger und achtziger Jahre verstopft. Hans Magnus Enzensberger hat es am Beispiel von Hans Benders Anthologie "Was sind das für Zeiten? Deutschsprachige Gedichte der achtziger Jahre" (1988) thematisiert: "Diese Poesie eignet sich wohl mehr für den Abreißkalender, der Sentenzen [...] neben Kochrezepte und Haushaltstips stellt."

"Lyrik 2000" – das trägt als erste Anthologie das von Christoph Buchwald herausgegebene Jahrbuch auf dem Titel. Seit siebzehn Jahren bewährt sich dieses Konzept: Buchwald holt sich jeweils einen Lyriker, der als Co-Herausgeber fungiert, und gemeinsam sitzen sie dann – so muß man sich das wohl vorstellen – über Bergen aufgefordert und unaufgefordert eingesandter Manuskripte. Eine Anthologie, wie sie sein sollte, weil sie unbekannte neben bekannten Namen veröffentlicht, Zugpferde und Trittbrettfahrer. Kleine und große Namen sonnen sich gleichermaßen im Lichte lyrischer Fixsterne, spielen auf sie an oder führen sie im Munde. Bert Brecht paßt, wie überall, auch zum neuen Formbewußtsein der neunziger Jahre (ihm wird etwa in Texten von Sebastian Kirsch, Albert Ostermaier, Bärbel Reetz Referenz erwiesen), andere referieren auf Peter Huchel (Jürgen Becker) oder Paul Celan (Michael Krüger). Es gibt hier eine Menge Ordnungen zu entdecken, von den seriellen "organischen Portraits" der 1973 geborenen Silke Andrea Schuemmer etwa möchte man gern mehr lesen. Mit Ludwig Harigs Sonetten von der Fußballweltmeisterschaft tritt ein Altmeister auf den Plan, mit Sonetten sind auch Robert Gernhardt, Franz Josef Czernin oder Serge Ehrensperger vertreten. Ein "weiter" Lyrikbegriff macht Text/Bild-Kombinationen von Jochen Gerz möglich und entfalten am Begriff der "Wahrheit" ganze Lebensgeschichten. Sehtexte von Romedius Mungenast, Alistair Noon, Matthias Politycki wirken daneben etwas angestaubt. Stärker beeindrucken Texte, die nicht bloß ein paar Beobachtungen zusammenstümpern, sondern eine Geschichte erzählen, wie zum Beispiel Günter Herburgers Portrait "Die Grete". Lustvolles Lesen garantieren Gerhard Rühm und Oskar Pastior.

Michael Rutschky schreibt in seinem Merkur-Essay ("Welcher Dichter ich gern wäre"), die Dichter wünschten sich für ihre Gedichte, "daß der Zeitverlauf ihnen nichts anhaben kann". Das ist ein tradierter, hoher Anspruch an die Lyrik. Sympathisch ist auch die Haltung des Goncourt-Preisträgers Raoul Ponchon, einem "bacchischen Dichter", der zu Lebzeiten kein eigenes Buch publiziert hat: "Seine Werke erschienen nur in Tageszeitungen, und er verkündete eine Theorie, wonach ein Gedicht binnen 24 Stunden verfaßt, niedergeschrieben, publiziert, gelesen und vergessen werden" müsse (Michel Tournier). Denn oft mündet Rutschkys Wunsch in ein Mißverständnis: Unter unseren zeitgenössischen Dichtern sind nicht wenige, die ihre Texte – möglicherweise aus Angst vor der Vergänglichkeit – allen Zeitbezugs entkleiden, aller formalen Raffinese, denn auch sie könnte literarhistorisch bestimmbar sein. Sie kippen das Alltägliche in ein "halbherzig lyrisiertes Parlando" (Jörg Drews) und schreiben es zur belanglosen und spannungslosen Allerweltserfahrung herunter.

Lyrik ist, trotz aller Vielfalt, in der sie publiziert wird, ein überschaubarer Markt. Die lauten und dominanten Stimmen hat man bald heraus. Wer wen fördert, wer wen anpißt, ist schnell zu ermitteln. Harald Hartung, der Prousts Fragebogen im F.A.Z.-Magazin über die Jahre verfolgt hat, vermißt unter den Antworten auf die Frage "Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen" die Antwort: "Gedichte schreiben". Man antworte mit "Klavier spielen" oder "malen", mit Gaben also, die eine mehr oder weniger elaborierte Kunstfertigkeit voraussetzen. Aber auch Lyrik setzt handwerkliches Können voraus, und es ist gerade der Mangel an Handwerk, der uns den "lyrischen Dilettantismus als Massenphänomen" beschert hat. Michael Rutschky rechnet Robert Gernhardt zu den "Stiftern einer gänzlich profanen Literatur", die dem Gedicht neue Geltung verschafft habe, dem formal ambitionierten Gedicht, das sich an der Gattungstradition orientiert. Gernhardts Erfolg beruht vermutlich auf dieser Virtuosität, mit der er ein altes Handwerk betreibt und es mit modernen Sprechweisen kombiniert. Und es steht die These im Raum, dies wäre Lyrik für Leute, die sonst keine Gedichte lesen würden. Eine Lyrik, die gern mit dem Verdikt der "Spaßgesellschaft" (Sigrid Löffler, Peter Hamm) belegt wird.

Über Lyrik sprechen, bedeutet nach wie vor, über Lyrik nach Auschwitz zu reden. 1945, quasi am Nullpunkt poetischer Möglichkeiten, schrieb Paul Celan seine berühmte "Todesfuge". Es gibt in ihr nur einen einzigen Reim: "der Tod ist ein Meister aus Deutschland, sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau", und Peter von Matt hat die These aufgestellt, daß "die poetische Routine" des Reims "grausig der Routine des Ermordens" entspreche. Die Thematisierung von Auschwitz im Gedicht hat noch immer etwas Skandalöses, und die anspruchslose Mechanik des Reims scheint sich in einen "performative[n] Widerspruch" (Gustav Seibt) zur Frage der Rechtmäßigkeit von Lyrik nach Auschwitz zu setzen. Das doppelte Problem ist aber nicht nur ein Formales, sondern auch das der eng umrissenen Topik, die für jüdische Lyriker ebenso für nichtjüdische Autoren besteht. Winfried Menninghaus und Amir Eshel beschreiben diese Problematik in ihren "Merkur"-Essays. Celans "Todesfuge" ist einer der bekanntesten Referenztexte der modernen Literatur, inzwischen ist er auch parodierbar geworden (vgl. Klaus Cäsar Zehrers Rezension in dieser Ausgabe). Die Neugierde, die den Literaturkritiker Jörg Drews umtreibt, geleitet ihn und uns zu anregenden Fundstücken, Fundstücken, die die Materialität lyrischen Sprechens an ihre äußerste Schmerzgrenze führen. Eines seiner überzeugendsten Beispiele ist Heimrad Bäckers Auschwitz-Gedicht "überprüft":

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Drews deutet die Herkunft des Textes als Fragment "aus Verwaltungsdokumenten des deutschen Massenmords an den Juden". Heimrad Bäcker tritt hier so weit wie möglich hinter die "reine Materialität" seines Stoffes zurück, nur der Gegenstandsbereich, die durchgehende Kleinschreibung und die Wiederholung der Strophe (ad infinitum) sind Vorgabe des Autors. Sein Verfahren entspricht weder dem "postmodernen Recycling", das Peter Hamm "unserer Lyrischen Landschaft" unterstellt, noch ist es "aussagesüchtig" oder gar "urteilssüchtig". Es ist weder ein Beispiel für den vielbeklagten "Eskapismus" noch für die ideologisch fatale, walsersche "Moralkeule". Es ist ein Beispiel dafür, wie Lyrik heute sein könnte: von materialer und formaler Strenge, unmittelbar einleuchtend, tausend Worte ersetzend, lehrreich, hilfreich.

Für unseren Lyrik-Schwerpunkt haben wir Anton G. Leitner zu einem Gastbeitrag eingeladen. Seine Zeitschrift "Das Gedicht" erscheint seit 1993 und wertet alle Neuerscheinungen im Bereich der deutschsprachigen Gegenwartslyrik aus. In diesem Zeitraum wurden rund 2.000 Titel bibliographiert und circa 300 rezensiert. Mit einem Gastbeitrag vertreten ist auch Ulrich Beil, der 1998 mit seinem Band "Aufgelassene Archive" bei DuMont debutierte. Derzeit habilitiert sich Beil in München im Fachbereich Komparatistik. Zusammen mit Leitner betreibt er eine Lyrikwerkstatt, in der wieder das Handwerkliche im Vordergrund steht. Unser Lyrik-Schwerpunkt hat, kaum geplant, eine ganz eigene Dynamik entfaltet. Auch unser Goethe-Schwerpunkt widmet sich der Lyrik: Wulf Segebrecht, Herausgeber des verdienstvollen "Fundbuchs der Gedichtinterpretationen", hat Goethe in der Gegenwartslyrik aufgesucht. Neben den Essays finden sich Rezensionen zu Jürgen Becker, Robert Gernhardt, Durs Grünbein, Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Anne Sexton, R. S. Thomas. Klaus Cäsar Zehrer bespricht eine Anthologie dezidiert "komischer" Lyrik, Geret Luhr vergleicht Neuübersetzungen von Shakespeares Sonetten. Viele Beiträge können erst in der kommenden Ausgabe erscheinen.

Die Bestandsaufnahme wird fortgesetzt.

    Heimrad Bäcker: nachschrift 2 (1997)

    Ulrich Johannes Beil: Aufgelassene Archive
    DuMont Buchverlag, Köln 1999.

    Das große deutsche Gedichtbuch. Von 1500 bis zur Gegenwart.
    Neu herausgegeben und aktualisiert von Karl Otto Conrady.
    Artemis & Winkler, München 1991.
    980 Seiten, DM.
    ISBN 3-538-06634-5

    Hans Magnus Enzensberger: Zickzack. Aufsätze.
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997.
    202 Seiten, DM
    ISBN 3-518-40858-5

    Das Gedicht. Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik. (Heft 6/1998)
    Herausgegeben von Anton G. Leitner.
    146 Seiten, 19 DM.
    ISBN 3-929433-56-7

    Peter Härtling: Gedichte. Hg. Klaus Siblewski.
    Kiepenheuer und Witsch, Köln 1999

    Jahrbuch der Lyrik 2000.
    Herausgegeben von Christoph Buchwald und Raoul Schrott.
    C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1999.
    158 Seiten, 19,90 DM.
    ISBN 3-406-44885-2

    Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken. Sonderheft Lyrik. Über Lyrik. (Heft 600).
    Herausgegeben von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel.
    398 Seiten, 30 Mark.
    ISBN 3-608-97002-9

    Joachim Sartorius (Hg.): Minima Poetica. Für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts.
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999.
    188 Seiten, DM.
    ISBN 3-462-02787-5

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