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Lust am Lesen oder Die Außenwelt wird Innenwelt

Von Lutz Hagestedt

"Als Lesezeit muß man wohl jenen Rest der Freizeit betrachten,
den das Fernsehen noch nicht verschluckt hat."

Jener Rest ist, einer Studie der Bertelsmann Buch AG zufolge, in Deutschland etwas kleiner als in anderen europäischen Ländern, aber mit täglich 51 Minuten doch überraschend groß. - Lesen in der Freizeit - das ist ohne Zweifel der Deutschen Lieblingssorgenkind Nummer eins. Über kein anderes Thema der kulturellen Standortbestimmung gibt es so viele Untersuchungen, Erhebungen, Statistiken. Hier verdienen sich die Umfrageinstitute eine goldene Nase. Mit den zum Teil empirisch gewonnenen Daten läßt sich dann alles - und das heißt nichts - belegen und beweisen. Statistik wird zur modernen Wahrsagerei. Das erkenntnisleitende Interesse entscheidet darüber, ob aus den Zahlen genüßlich der Untergang der Kulturnation oder beschwichtigend der gerade noch einmal gerettete Status quo abgeleitet wird. 51 Minuten Lesezeit pro Tag und im Schnitt. Was soll man dieser Ziffer entnehmen? Wird hier denn überhaupt differenziert, wird angegeben, wie und mit welcher Lektüre diese tägliche Lesezeit herumgebracht wird? Sind Klosprüche und Beipackzettel hier inbegriffen?

Es ist doch offensichtlich: Immer mehr Freizeitangebote machen dem Buch Konkurrenz. Da sind die Nintendo-Computerspiele - und die kann man «SSUN»auch«SSNO» «SSUN»«SSNO»in die Tasche stecken und überall hin mit-nehmen; da sind die alten und neuen Sportarten; da sind die Fitnesszentren und die Erlebnisparks; da sind die Kinos und Discos, Fernsehen und Video, Kaffeefahrten und Pferderennen. Wie soll sich da das Buch behaupten?

Und selbst beim Lesefutter gibt es Konkurrenz fürs Buch: für jede Verrücktheit eine Zeitschrift. Dazu kommen noch die Werbeblätter, Beilagen und Broschüren, Tageszeitungen und Comics in Hülle und Fülle. Man kann es gut verstehen, daß sich die Kinder von heute am liebsten auf diese Bildsensationen einlassen. (Resigniert:) Wie auf den ersten Blick trocken, langweilig und unsinnlich wirkt da das Buch. Keiner liest, dies wäre meine These, der nicht schon immer gelesen hat, von früher Kindheit an. Der nicht weiß, was diese spröde schwarz-weiße Oberfläche an Reichtümern bereithält.

Deshalb bilden die Kinder und Jugendlichen auch die natürliche Zielgruppe der Leseförderung. "Anstiftung zum Lesen", so könnte man die Arbeit der "Stiftung Lesen" überschreiben. Mehr als 50 Millionen Mark geben Bund und Länder jährlich für die Leseförderung aus. Und rechnet man den Werbeetat der Verlage hinzu, dann sind rasch 200 bis 250 Millionen Mark erreicht.

Gleichwohl: Auf dem Freizeitmarkt steht das Buch in Konkurrenz zu einem ständig sich erweiternden Sortiment von Produkten, die auch "Erlebnisangebote" darstellen. Eine Zeitlang versuchten die Bücher, den laufenden Bildern Konkurrenz zu machen: Sehtexte entstanden, man erinnerte sich an die gute alte Emblematik und erfand die Bildergeschichten. Bis sich herausstellte, daß die Bildlosigkeit des Buches ein geradezu unschätzbarer Vorteil ist: Denn hier kann man sich die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen ausgestalten. «SSNO»Die eigene Fantasie, der persönliche Erfahrungshorizont jedes einzelnen Lesers wird aktiviert. Jeder Leser baut sich seine eigene Welt: sie ist für ihn und durch ihn da. Anders beim Comic, beim Film und Fernsehen: Hier werden uns Fremdfantasien aufgenötigt.

Somit ist Lesen in ganz anderer Weise prägend als etwa Fernsehen oder ein Rockkonzert. Lesen ist "innenorientierter Konsum". Wer lesen will, muß Fantasie mitbringen, der muß seinen inneren Bildervorrat mobilisieren. Leser sind aktiver, sie setzen die bildlose Schrift in innere Bilder um. Und sie haben mehr davon. Denn diese Aktivität, diese besondere Verarbeitungsform, ist es offenbar auch, die Leseeindrücke besser

haften läßt. Hinzu kommt, daß sich unser Bildervorrat laufend erweitert und vertieft: Der erfahrene Leser hat eine ganze Palette sich zugelegt, einen nahezu unerschöpflichen Bildervorrat gespeichert, ihn durchlebt und durchlitten. Er hat sich vielfach verloren und wiedergefunden. Jedes neue Buch profitiert davon. Man spricht nicht von ungefähr von "Lesefrüch-ten", "Leselust". Lesen ist Erotik pur. Dadurch, daß der Leser aktiv werden muß, ist er selbst beteiligt. Der Leser als Held - das ist ein alter und stimmiger Topos.

In Michael Endes "Unendlicher Geschichte" wird der Leser selbst Mittelpunkt der Welt und bewahrt das Land >Phantásien< vor dem drohenden Untergang. Der Held dieser "Unendlichen Geschichte", Bastian Balthasar Bux, ist ein typischer Freizeitheld unserer Tage: Elf Jahre alt, für sein Alter viel zu dick, unsportlich, ein schlechter Schüler obendrein. Lesen bedeutet bei ihm Eskapismus, Flucht aus dem bedrückenden Alltag. Er will die reale Welt um sich herum vergessen, sich zurückziehen in eine innere Welt, und er "wächst" an seiner Fantasie. Nur weil er lernt, sich in eingebildeten Welten zu bewähren, kann er dies auch in der Realität. Aber alldies ist Teil des

Romans, und es fragt sich, ob es in der Realität eine Entsprechung hat. Die großen Aufklärer jedenfalls waren der Meinung, daß die Leseleidenschsft im unkontrollierten Übermaß, die sogenannte "Lesewuth", die gesellschaftliche Sozialisation des einzelnen bedrohe. In zahlreichen Exempelgeschichten haben die Aufklärer Leserfiguren dargestellt, die im Wahnsinn und im Elend endeten. Allzuvieles Lesen in der Freizeit gab zu echter Sorge und Entrüstung Anlaß. Schon Platon stellte den Tugendwächtern des Staates die besorgte Frage:

"Was für einen Gebrauch wollt ihr von den verführerischen Schriften machen, deren es nicht wenige gibt?"

Und selbst die Pädagogen der Goethezeit warnten vor den "Auswüchsen müßiger oder üppiger Einbildungskraft", vor den Erotica etwa, die selbst schon von "unbärtigen Knaben" gelesen wurden. Erinnert sei nicht zuletzt an den halbwüchsigen Frank McCourt, der "Das Leben der Heiligen" nur aus einem einzigen Grund studiert: Denn hier wird von jungfräulichen Märtyrerinnen erzählt, die keusch ihren Glauben verteidigen: sie werden entblößt, mißhandelt, in Öl gesotten und verstümmelt. Daran kann sich die Fantasie eines pubertierenden Jünglings so richtig entzünden!

Ins Positive gewendet bedeutet Lesen Erfahrung und Selbsterfahrung. Man kann in andere Häute schlüpfen, fremde Identitäten annehmen, sich exotische Räume erschließen. Echte Büchernarren kennen keine Langeweile. Sie kennen auch keine langweiligen Bücher: Wenn ein Buch sie nicht fesseln kann, dann wissen sie, daß es an ihnen selbst nur liegen kann. Echte Bücherfreunde können auch dem widerständigsten Brocken etwas abgewinnen und haben immer zuwenig Freizeit statt zuviel. Sie müssen nicht im Fenster liegen und Verkehrssünder notieren, um den Tag rumzukriegen. Ihre Freizeit ist im wahrsten Sinne erfüllte Freizeit. Sie nutzen jede Minute, um sich über das geliebte Buch beugen zu können. Und wenn es gar nicht mehr anders geht, wenn es ihre Zeit nur erlaubt, von hier nach dort zu kommen, im Auto Entfernungen zu überbrücken, von einem Termin zum anderen zu jagen, dann greifen sie wenigstens zu einer bewährten Erfindung, die im Buchhandel gerade eine Renaissance erlebt: zum Hörbuch oder Audiobook, dem Buch auf Kassette oder CD. Da können sie sich auf der Autobahn ihren geliebten Thomas Mann oder Hermann Hesse reinziehen - oder ihre Freizeit in anderer Weise horizonterweiternd verbringen. Der sagenhafte Erfolg von "Sophies Welt" ist ja nur so zu erklären, daß Leser glauben, hier auf spannende Weise Wissen speichern zu können. Ich glaube, daß echten Lesern alles nützt. Und ich halte es da mit dem Schriftsteller Ludwig Harig, der einmal bekannt hat: "Mein Vater war der erste Mensch, den ich habe lesen sehen, und das entschied über mein Leben."

Es fragt sich, seit wann es denn Freizeitleser - historisch gesehen - überhaupt gibt. Für breite Bevölkerungsschichten kann man dies wohl um 1750 ansetzen. Damals war in deutschen Landen ein gewisses Bildungsniveau erreicht, so daß breite Schichten lesen konnten. In dieser Zeit wurden auch verstärkt Bildungsvereine gegründet, meist von Privatleuten, vermögenden Honoratioren, aber auch von staatlichen und kirchlichen Stellen. Von großer Bedeutung waren die literarischen Salons, wo wichtige Neuerscheinungen vorgelesen und diskutiert wurden. Auch Leihbibliotheken wurden eingerichtet. Ein wichtiger Impuls kam von den Taschenbüchern und Almanachen, die um die Wende zum 19. Jahrhundert einen enormen Absatz fanden. Das konnten sich dann auch der kleine Handwerker, das Blumenmädchen oder die Putzmamsell leisten. Ein solches Blumenmädchen wird übrigens in einer Erzählung von E. T. A. Hoffmann ge-schildert: Die junge Frau ist ganz vertieft in ein Taschenbuch aus der Kralowsky'schen Leihbibliothek zu Berlin. Und das Bemerkenswerte daran ist: das Blumenmädchen liest während der Arbeitszeit! Es ist gerade kein Kunde da, also greift es zum Buch und liest atemlos ein Stückchen weiter. Freie Zeit während der Arbeitszeit, lesend genutzt!

Somit wäre Freizeit ein relativ modernes Phänomen, nicht älter als - sagen wir - zweihundert, zweihundertfünfzig Jahre. Doch natürlich gab es auch in der Antike schon Freizeit - für die Happy few. Die wenigen, die Freizeit hatten, das waren die sogenannten "Freien". Die übergaben selbst ihre Kinder den Sklaven zur Erziehung und beugten sich über ihren Homer und Herodot, Catull oder Ovid. Die alten Römer haben vielleicht nicht Freizeit gesagt, dafür aber "otium", das heißt: "Muße, Ruhe". Und "negotium" war dessen Negation: die "Unmuße", die Arbeit also. Doch im Prinzip muß man Freizeit als modernes Phänomen begreifen. - Unserer Zeit wird nun vielfach attestiert, daß sie den Zenit der Lesekultur überschritten und hinter sich gelassen habe. Ein neuer, ein "sekundärer" Analphabetismus ist auf dem Vormarsch, soll heißen, daß Leute, die sich einmal rudimentäre Lesefertigkeiten erworben haben, sie nach der Schule oder Lehre wieder verlieren. Für sie ist Lesen kein Anreiz, ihre freien Stunden zu opfern. Besteht da nicht Anlaß zur Sorge? Ist da nicht die Frage angebracht und berechtigt, ob Lesen im Land der Dichter und Denker eine Zukunft haben wird, oder ob das Lesen nicht vielmehr als Technik verlorengehen wird?

Gehört nicht auch bald das Buch als Informationsträger der Vergangenheit an? Nun, damit ist wohl nicht zu rechnen. Es stimmt zwar, daß mehr und mehr Menschen nach der Schule in eine Arbeitswelt eintreten, die so organisiert ist, daß das Lesen entbehrlich wird. Analphabeten sind aber nicht völlig des Lesens unkundig: Sie können bloß «SSUN»unser«SSNO» Schriftsystem nicht mehr lesen, das will-kürliche Zeichen verwendet. Andere "Zeichen", piktische und emblematische Symbole, Mimik und Gestik verstehen sie sehr wohl. Diese Kenntnis verlieren sie nicht, weil sie - sehr wahrscheinlich jedenfalls - genetisch festgelegt ist. Lesen ist Spurenlesen, wie der Physiologe Otto-Joachim Grüsser überzeugend darlegen konnte. Schon die Urmenschen mußten lernen, Spuren zu lesen. Das war überlebensnotwendige Arbeit. Das Entschlüsseln von Tierfährten, der Spuren nützlicher Beutetiere oder gefährlicher Jäger, war die Bedingung der Möglichkeit erfolgreicher Jagd. Bereits der Homo habilis, der vor circa zweieinhalb Millionen Jahren lebte und bereits fleischliche Nahrung aß, muß die Fähigkeit besessen haben, relevante von irrelevanten Spuren, frische von alten Fährten zu unterscheiden. Anhand der Spuren konnte er sich bereits das Tier vorstellen, auf dessen Fährte er gestoßen war. War es ein großes oder kleines, ein junges oder altes Exemplar seiner Gattung, hatte es sich schnell oder langsam bewegt, war seine Fortbewegung regulär oder irregulär undsoweiter. Diese Fähigkeit, die Arbeit war, die dem Überleben diente, wurde, so muß man sich das vorstellen, in der verbleibenden freien Zeit an die Nachkommen weitergegeben. Unterricht im Spurenlesen, das hieß vermutlich: Spuren betrachten und in den Sand daneben das entsprechende Tier zeichnen. Noch heute wird dem Nachwuchs der australischen Ureinwohner, der Aborigines, das Spurenlesen genau in der Phase beigebracht, in der unsere Kinder lesen lernen.

Also war schon unser vorgeschichtlicher Vetter ein Homo legens, ein Lesemensch. Doch wie steht es heute mit dem Buch? Wie kann es sich überhaupt noch gegen die mannigfaltige Konkurrenz der Freizeitindustrie behaupten? Was tun Verlage, damit wir in unserer Erlebnisgesellschaft, in unserem "Fun-Age", zum Buch greifen? Fast alles. Verlage wissen: Freizeit ist ein hoher Wert, und da gilt es, den hohen Freizeitwert des Buches herauszustellen. Also muß das Buch mit Urlaub, Reisen, Abenteuer, Liebe und Erotik, Spaß und Spiel in Verbindung gebracht werden. Man setzt auf erfolgserprobte Bücher: Was sich viel verkauft hat, gern gelesen wurde, das muß auch für den Freizeitsektor gut sein. Der größte Bucherfolg der letzten Jahre, mit einer international generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten, an mehreren Fronten agierenden Madienmaschinerie, war die Vermarktung von "Scarlet", der Fortsetzung des internationalen Bestsellers "Vom Winde verweht". Und die Rechnung ging auf. Bereits nach kurzer Zeit waren von der Fortsetzung des Rührschinkens, der zahllose Leser in Wasser gesetzt hatte, über eine Million Exemplare verkauft.

Wichtig ist, daß die Neuerscheinungen von vornherein marktgerecht und verkaufsträchtig gestaltet werden. Die Verpackung muß stimmen. Da sieht dann bald jedes zweite Buch wie ein echter Simmel oder wie ein neuer Grisham aus. Ferner werden Bücherpakte zusammengestellt, Verkaufsaktionen geplant: "In achtzig Büchern um die Welt" - diese Aktion zum Beispiel soll an Jules Vernes atemlosen Erfolgsroman erinnern. Oder denken Sie an "Die Schatzinsel": Da hat ein Verlag einige Klassiker der Abenteuerliteratur neu gestaltet und buchhandelsgerecht in einer schmucken Kiste angeboten. Diese eigens geschaffenen "Verkaufsdisplays" sollen dafür sorgen, daß die Bücher in jeder Buchhandlung sofort ins Auge des Kunden fallen.

Leider scheinen die Marketingstrategen der Verlage nicht sehr geschickt und originell zu sein. Eine Untersuchung der Ruhruniversität Bochum belegt eines ganz deutlich: daß die Werbetexte der Verlage in ihrer Gestelztheit, "Dunkelheit" und Metaphorik nur diejenigen erreichen, die sich ohnehin durch nichts vom Lesen abhalten lassen. Am meisten läßt man sich noch bei der Verpackung einfallen. Unsere Bücher gehören sicherlich zu den schönsten und geschmackvollsten der Welt. Denn Buchumschläge und Klappentexte sind in erster Linie Werbeträger und sollen zum Lesen animieren. Da wirkt ein flotter Satz aus der Feder eines bekannten Kritikers oft Wunder. Natürlich muß auch das Preis-Leistungsverhältnis stimmen. Urlaubslektüren und Strandkorbseller müssen gut kalkuliert sein. Und sie müssen leidenschaftlich beworben werden.

Den Verlagen kommt es natürlich in erster Linie auf den Käufer an. Das Lesen ist eine zweite Frage. Es geht darum, Freizeitangebote bereitzustellen. Die Weihnachtsferien etwa stellen soviel Zeit frei, daß manchen Familien die Decke auf den Kopf fällt. In der Vorweihnachtszeit präsentieren uns die Verlage Charles Dickens' "Weihnachtsgeschichte" - zum tausendsten Mal neu verpackt und illustriert. (Ironisch:) Begeisternd, dieser Einfallsreichtum. Ob jemand tatsächlich die freie Zeit damit unterm Weihnachtsbaum verbringt? - Es muß der Weihnachtsbaum nicht sein. Ein Vorteil des Buches ist ja, daß man es überall mit hinnehmen, überall kaufen kann. Ein Buch ist wie ein kleines Equipment, wie ein Orchester, das in jeder Tasche Platz findet. Seit einiger Zeit gibt es neben dem Taschenbuch noch die "Mille lire"- oder "Sixty pence"-Books, die kleinen Geschwister der Taschenbücher, die gerade mal für eine Bahnfahrt mittlerer Länge Lesestoff bieten. Lesen ist überall möglich: Im Wartezimmer, auf der Parkbank, im Strandkorb, in der U-Bahn – und selbst auf dem Klo! Dort liest Leopold Bloom zum Beispiel, der Held des "Ulysses". Er liest zwar Zeitung, aber eine in der Zeitung abgedruckte Erzählung. Die reißt er

heraus, denn das Papier kann er hinterher gut brauchen. Eine göttliche Szene. Zugleich ein schönes Beispiel für das subjektive Zeitempfinden beim Lesen. Während Bloom liest - "seinen Drang noch unterdrückend", dann "gelassen über seinem eigenen aufsteigenden Geruch sitzend" - macht seine Fantasie sich selbständig.

"Abendstunden, Mädchen in grauem Flor. Nachtstunden dann, schwarz, mit Dolchen und Augenmasken. Poetische Idee, rosa, dann golden, dann grau, dann schwarz. Aber lebenswahr auch. Tag, dann die Nacht."

In Sekundenschnelle zieht hier ein ganzer Tag am geistigen Auge der Leserfigur Leopold Bloom vorüber. Eine Zeitreise im Kopf. Es macht gerade den Zauber des Lesens aus, daß es uns an die Grenze von "wirklicher" Fantasie und "fantastischer" Wirklichkeit führt, wo Innen- und Außenwelt ineinandertauchen. Diese Erfahrung gilt natürlich nicht nur für uns Leser, sondern auch für den Autor im Schreibprozeß selbst. Der Schriftsteller und Psychiater Ernst Augustin hat seine Schlüsselerfahrung des Lesens und Schreibens folgendermaßen beschrieben:

"Für mich ist eben die Außenwelt gleich einer Innenwelt. Ich projiziere es von Außen nach Innen, daß eigentlich die ganze Welt sich in mir befindet, wobei ich mich persönlich wiederum in der Welt befinde. Das ist dieses Hin-und-her-Spiel [...], dieses Thema des Beteiligtseins, obwohl es

in mir stattfindet."

Ernst Augustin hat in seinen Romanen diese Schnittstelle zwischen Innen und Außen auf eindrucksvolle Weise dargestellt. Deshalb ist er ein Kronzeuge für die Lust, für die schiere Begeisterung, die man beim Lesen empfinden kann. Die Leseerfahrung unserer Kindheit! Das, was man früher vielleicht als Seligkeit beschrieben hat.Heute nennt man das ein "Flow-Erlebnis". Zu den Merkmalen von "Flow" gehört die Veränderung des Zeitgefühls ebenso wie die Überwindung der Grenzen des Selbst. Am häufigsten haben Vielleser "Flow-Gefühle", auch das scheint inzwischen wissenschaftlich erwiesen zu sein. Deshalb gibt es erste Versuche der Medizin, eine neue Therapie zu starten, die Bibliotherapie. Vor anderthalb Jahren wurde an der Freiburger Klinik für Tumorbiologie ein "bibliotherapeutisches Forschungsprojekt" ins Leben gerufen. Hier soll sich der Patient so sehr in seine Innenwelt verlieren lernen, daß ihn die Außenwelt gar nichts mehr angeht. Diese Erfahrung soll ihn sogar schwerstes persönliches Leid ertragen helfen. Der Leser ist dann wie der Heilige, der - Zitat - "aus sich heraus in sich hineinschaute wie in einen Fremden, der schwere Pein erfuhr, dessen Pein ihn aber nichts anging."

Die Bibliotherapie kann sicher helfen, schwere Zeiten zu überbrücken. Interessant ist überhaupt das Phänomen der Zeit beim Lesen. Beim Lesen kann die Zeit stillstehen, sich dehnen oder wie im Fluge vergehen. Das Buch ist das einzige Medium, bei dem man das Tempo selbst bestimmen kann. Man befindet sich beim Lesen quasi im Auge des Taifuns. Die Zeit der Rezeption ist absolut individuell. Eine junge Frau bekannte einmal, ein Buch von Peter Handke reiche ihr für ein ganzes Jahr. Und bei den Büchern selbst unterscheidet man auch noch einmal mindestens zwei Zeitebenen, die Erzählzeit, also die Zeit, die benötigt wird, um eine Geschichte zu erzählen, und die erzählte Zeit, die in der Geschichte dargestellt wird.

Auch historisch war für viele Leser das Lesen in ganz spezifischer Weise mit Freizeit verknüpft. Neunzig oder mehr Prozent aller dargestellten Welten, so die These, schilderten - und schildern noch!, muß man sagen - die Personen und Figuren fast ausschließlich in ihrer Freizeit. Das Gedicht, die Novelle, das Theaterstück schildern nicht etwa die Realität der Arbeitswelt, weit gefehlt! Die wenigen Beispiele, die man vor und nach Brecht anführen könnte, sind an einer Hand abzuzählen. Ebenso in der modernen Prosa. Die "Literatur der Arbeitswelt" oder die "Bottroper Protokolle", die in die Literatur hereingeholte Realität der Werktätigen, der sozialistische Realismus - das alles hat sich nicht durchsetzen können. Auch der "Soziale Roman" der Biedermeierzeit ist Episode geblieben in der Literaturgeschichte. Vielleicht war das auch der Irrtum der "Literatur der Arbeitswelt": Der Leser will ja gar nicht auf das alltäglich Sorgenbringende zurückgeworfen werden, er will Erweiterung: Erweiterung des Horizonts, Grenzüberschreitung. Das ist der Trend zum Event. Wenn ich Ernst Augustin lese, zum Beispiel, dann ist das für mich das wahre, ungetrübte Glück. Das ist wie Verliebtsein, da spüre ich geradezu, wie sich mein Geist in die Falten dieser fantastischen Welten legt. Die moderne Hirnforschung ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Lesen "die anspruchsvollste Gehirntätigkeit" überhaupt ist.

Es gilt also: Literarische Figuren werden dominant im Privaten aufgesucht und in ihrer Freizeit dargestellt. Die Liebeserfahrung, die Bildungsreise, das Abenteuer - das sind die vornehmlich gewählten Sujets. Das läßt sich auch anhand der Theorie zeigen: Hegel schreibt in seiner einflußreichen "Ästhetik", daß die Arbeitswelt häßlich sei und für ideale Gestaltungen - also für die Literatur! - nicht infrage komme. Wird in "Werthers Leiden" etwa gearbeitet? Mitnichten. So sagt Werther:

"Wenn ich die Einschränkung ansehe in welcher die thätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind... Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt!"

Nicht einmal Albert, diese Inkarnation der bürgerlich nützlichen Welt wird bei der Arbeit gezeigt. Hingegen die Literatur! Sie spielt bei Goethe eine große Rolle: das Motiv des lesenden Liebespaars, das durch die Lektüre zueinander findet: Homer, Klopstock, Ossian, Lessing. Beim Tanzvergnügen lernt man sich kennen, bei der Literatur vergießt man gemeinsame Tränen. Diese Literatur schildert den jugendlichen Helden, frei von sozialen Zwängen. Weder muß er sich um seinen Lebensunterhalt sorgen, noch muß er auf gesellschaftliche Konventionen groß Rücksicht nehmen. Seine Lebensbahnen sind noch nicht festgelegt, er läßt sich treiben, erotischen Abenteuern nicht abgeneigt. Und mit ihm läßt sich der Leser treiben. Die eigene Fantasie muß hinzutreten, und - schwupps - ist man selbst der Held. So erfüllt man sich Wünsche, die sonst vielleicht ewig unerfüllt blieben. Lesend wird man Held einer virtuellen Welt.

Das Engagement der Buchhandlungen ist hier entscheidend. Der Buchhandel hat einerseits kapituliert, sich andererseits auf die wachsende Konkurrenz im Freizeitmarkt eingestellt. Einerseits: Das Bild der Buchhandlungen in unseren Städten hat sich gewandelt, und zwar nicht zum besseren. Die Discounter-Buchhandlung macht sich in ihrer ganzen Trostlosigkeit breit: überall dasselbe Programm, nurmehr Bücher mit hoher Umschlagszahl - oder Ramsch- und Remittendentitel in großen Stückzahlen. Nirgendwo mehr etwas zu entdecken. Ein echtes Trauerspiel. Andererseits: In vielen größeren oder Groß-Buchhandlungen sind Ruhe- und Erlebnisräume geschaffen worden, damit der Kunde gleich vor Ort seine Freizeit verbringen kann. Die Münchner Großbuchhandelskette Hugendubel beispielsweise hat in ihren Bücherkaufhäusern Inseln der Seeligen geschaffen: bequeme, anheimelnde Sitzgruppen, wo sich der Kunde gemütlich zum Stöbern zurückziehen kann. Auch der zukünftige Kunde ist hier willkommen: Viele Kinder und Jugendliche verschmökern hier ihre Freizeit oder überbrücken Freistunden in der Schule. Gelobt seien auch die Literaturhandlungen und Autorenbuchhandlungen, die seit Anfang / Mitte der 70er Jahre für viele Bücherwürmer zum zweiten Wohnzimmer geworden sind. Eine Couch, eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein gehören hier quasi zur Grundausstattung. Und manch ein dankbarer Kunde hat hier schon seine Freizeit investiert, um der kleinen Mannschaft bei der Jahresinventur zu helfen. Und es gibt Buchhandlungen, die leisten sich auch Spielwiesen für die ganz Kleinen, die noch nicht lesen können, aber schon ewige Freundschaft mit dem Bilderbuch geschlossen haben, die sich vor dem Einschlafen eine Gutenachtgeschichte und sonst nichts sehnlicher wünschen, als endlich selber lesen zu können. Die Autorenbuchhandlungen haben seit Anfang der siebziger Jahre verstärkt auch die Dichter zu Lesungen eingeladen. Öffentliche Lesungen erfüllen eine wichtige Funktion: Hier gibt es den Dichter zum Anfassen. Lesen wird ereignisträchtig und stiftet eine eingeschworene Gemeinschaft der Lesenden.

Auch die öffentlichen Bibliotheken entwickeln sich immer mehr zum Freizeitpark, soweit es die öffentlichen Mittel erlauben. Und wo in strukturschwachen Gebieten keine Bibliotheken eingerichtet werden können, da kommt der Bücherbus.

Und auch häuslich sollte man sich eine Not- und Hilfsbibliothek einrichten. Der Münchner Schriftsteller Ernst Augustin hat sich seine private Bibliothek zum Erlebnisraum ausgestaltet. Das ist nur konsequent: Was sich im Kopf ereignet, darf und soll in der Realität seine Fortsetzung finden. Es gibt wunderbare Kataloge, die von privaten und öffentlichen Bücherlandschaften Zeugnis ablegen. Der Rockmusiker Keith Richard bekannte kürzlich, nach seinem Leben "on the road" hätten ihn nun "die Bücher geerdet". Und der Engländer Nicolas Barker antwortete auf die Frage, ob er Bücher sammle: "Nein die Bücher sammeln mich."

Leser wissen: Intensiver als mit Büchern kann man seine Freizeit nicht erleben.

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