Zurück   Zur Startseite

Kohle und Gloriole

Über Literatur, Kritik und Komplexität

Von Lutz Hagestedt

Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst der Unterhaltungsliteratur. Seit längerem fordern Kritiker und Lektoren (die eigentlich durch ihr Programm überzeugen müßten), die deutsche Literatur solle sich doch endlich an den Qualitäten der Bestseller ein Beispiel nehmen. Matthias Politycki, der in den vergangenen Jahren den Weg von einem eher spröden Experimentator (AusFälle, 1987) zu einem intelligenten Unterhaltungsschriftsteller (Weiberroman, 1997) gegangen ist, hat die gespenstische Diskussion auch essayistisch begleitet und mit einem ›Gegenvorschlag‹ konfrontiert: daß nämlich "auch die Unterhaltungsschriftsteller etwas von ihren angeblich unterhaltungsfeindlichen Kollegen zu lernen hätten – beispielsweise, daß es beim Schreiben nicht nur ein Vergnügen gibt, sich in seinen Gegenstand zu versenken, sondern ein damit verknüpftes, sich eine eigne, unverwechselbare Sprache dafür zu erschaffen." Und nach seinem erfolgreichen Plädoyer für eine handlungs- und spannungsreiche, lustvolle und unterhaltsame Literatur will Politycki jetzt auch für die schwierige, komplexe, spröde, schwer zugängliche Literatur eine Lanze brechen – ein Beispiel intellektueller Redlichkeit.

›Literatur‹ und ›Komplexität‹

Der Begriff der ›Komplexität‹ ist für die moderne Gesellschaftstheorie von großer Bedeutung: Am Komplexitätsgrad wird der Entwicklungsstand einer Gesellschaft gemessen. Mit wachsender Komplexität erhöht sich die Gefahr sozialer Konflikte, wächst aber auch der Pool intelligenter Lösungen. Schon deshalb brauchen wir eine Literatur, die der Komplexität unserer Realitätserfahrung angemessen ist. Eine Literatur, die Mittel und Wege findet, uns die Welt erfahrbar und verstehbar zu machen, ohne sie abstrakt erklären zu müssen. Die Debatten, die um die erzählerischen Qualitäten der deutschen Gegenwartsliteratur geführt wurden, sind da eher Ausdruck einer zu starken Komplexitätsreduktion. Der Vorwurf, unsere Literatur sei langweilig, wenig unterhaltsam und zu stark selbstbezogen, verfangen schon deshalb nicht, weil ›Langeweile‹ und ›Unterhaltsamkeit‹ Rezeptionsphänomene sind und nicht Eigenschaften von Literatur: Was für den einen langweilig ist, kann für den anderen im höchsten Maße spannend sein. Hermann Hesse sei "langweilige Limonade", urteilte Alfred Döblin, doch die Hesse-Rezeption zeigt bis heute, daß dieser Autor Generationen von Lesern in seinen Bann zu schlagen weiß. Und auch Alfred Döblin widerlegt die These von der Sprödigkeit der deutschen Literatur: Seine Amazonas-Trilogie etwa kann es an Farbigkeit und Spannung mit jedem lateinamerikanischen ›Suspense‹-Roman aufnehmen – und sie entspricht genau Polityckis Forderung nach einer "unverwechselbaren Sprache". (Im übrigen mag es Leser geben, die von der hochgelobten internationalen Bestsellerware vor allem angeödet sind.)

Jede Literatur ist mehr oder weniger komplex. Wie komplex die vielfach als ›Erlebnisdichtung‹ verstandene frühe Lyrik Goethes ist, das hat die geniale Literaturwissenschaftlerin Marianne Wünsch in ihrer bis heute vorbildlichen Analyse von 1975 gezeigt. Fragt man nämlich, wie Goethes Texte es machen, so ›einfach‹ aufzutreten, so ›erlebt‹ und ›empfunden‹ und ›unstrukturiert‹ zu erscheinen, dann sieht man sich plötzlich mit schier unlösbaren Problemen der Sprechsituation, des ›Erlebnisses‹ und seiner Vergegenwärtigung im poetischen Sprechakt konfrontiert. Das Buch von Wünsch über den Strukturwandel in der Lyrik Goethes ist selbst außerordentlich komplex und anspruchsvoll, aber es zeigt eben, was intensive Beschäftigung mit Literatur im günstigsten Fall sein kann: Ein Wetterleuchten der Erkenntnis, das der Poesie gerecht wird und sie funkeln und blitzen läßt. Dem Erkenntnisgewinn entspricht dann durchaus auch ein ästhetischer – man weiß Goethes Lyrik viel bewußter zu würdigen und zu genießen.

›Spannung‹, ›Unterhaltung‹

Eine jede Gesellschaft schreibt sich ›ihre‹ Literatur nach ihren Bedürfnissen, theoretische Forderungen bewirken da meist wenig. In unserer Gesellschaft hat Literatur einen hohen Stellenwert, aber schwer hat es unsere Literatur, wo sie auf ihren Unterhaltungswert reduziert wird. 1970 erschien in Frankfurt Ernst Augustins Roman Mamma. Die Werbestrategen des Suhrkamp Verlages kokettierten damals mit der Warnung: "Vorsicht: Handlung. Achtung: Es wird wieder erzählt". In der Tat verfügt Ernst Augustin über eine erzählerische Farbigkeit und handlungsintensive Dynamik, die man bei einem deutschen Autor kaum vermuten möchte. Die Literaturkritik jedoch hat diesen Roman für ›zu leicht‹ befunden. Durch ihre Fixierung auf das Merkmal der ›Unterhaltsamkeit‹ (noch dazu bei einem Suhrkamp-Autor!) ist ihr die im höchsten Maße irritierende Erzählstruktur des Romans und damit ein wesentlicher Kontrapunkt zur ›leichten‹ Oberflächenwirkung entgangen.

Komplexität und Spannung, Komplexität und Unterhaltsamkeit müssen keine Widersprüche sein, schon gar nicht für den Leser. Man hätte das Beispiel Ernst Augustins als Herausforderung begreifen müssen, der irritierenden Differenz von erzählter Geschichte und ihrer formalen Präsentation nachzugehen und sie nicht einfach als ›widersprüchlich‹ abzutun, wie es einige Kritiker taten. In der Literatur gibt es weder Widersprüche noch unfunktionale Details – es gibt nur ungenügende Lesarten.

Fatal ist es, die komplexe gegen die eher ›einfach‹ strukturierte Dichtung auszuspielen. Die Gedichte von Ulrich Johannes Beil, Franz Josef Czernin oder Ferdinand Schmatz sind nicht per se ›besser‹ als die von Ulla Hahn, Jörn Pfennig oder Christiane Allert-Wybranietz. Sie entsprechen bloß je verschiedenen Autorentheorien, Leserbedürfnissen und Produktionsästhetiken. Das Einfache gibt dem Komplexen Relief und umgekehrt, und daher brauchen wir diese Vielfalt im Angebot. Ein bedeutender Lyriker unserer Tage, Robert Gernhardt, hat Leichtes ebenso wie Schwieriges im Programm und erzeugt mit seinem formalen Spektrum eine ungeheure Dynamik und eine schöne ›Fallhöhe‹ der Poesie. Mit Gernhardt läßt sich im übrigen hervorragend zeigen, wie sich das Einfache und das Komplexe wechselseitig bedingen. Als 1981 sein Gedichtband Wörtersee erschien, da bekam er von der Literaturkritik so gut wie keine Resonanz. Die Texte – erzählende, pointierte, gereimte Gedichte in tradierten Sprechweisen, liedhaften Strophen – sind unterhaltsam, witzig, anspielungsreich. Als Vorbilder lassen sich Benn, Brecht, Eichendorff und Hofmannsthal, Mörike, Morgenstern und Platen, Ringelnatz, Storm und Ror Wolf (und viele andere) leicht erkennen. Zahlreiche Texte haben durch Bildbeigaben, durch Zeichnungen, Postkarten oder Fotografien eine optisch-visuelle Dimension, die das Verstehen unterstützt. Dennoch hatte die Kritik offensichtlich keinen Zugang zu diesem leichten, unterhaltsamen, durch seinen Umfang (320 Seiten!) schwergewichtigen Band. Es war einfach die Fülle der so noch nie gemeinsam aufgetretenen Formen, der Bild- und Rätselgedichte, der gereimten Postkartengrüße, der Nonsensverse und "Lieder ohne Worte", die letztlich die Komplexität des Bandes ausmachten und – vermutlich – die Rezeption durch die Kritik verhinderten. Immerhin: Gernhardts Wörtersee hat seinen Erfolg bei den Lesern, er wurde bis heute mehr als 80.000 Mal verkauft, und allmählich setzt auch die literaturkritische Rezeption ein.

Literatur und Kritik

Habent sua fatae libelli! Umso erfreulicher ist es, wenn auch die nicht ganz einfachen Texte ihre Leser finden, den Wahrscheinlichkeiten des Marktes zum Trotz. Die Gründe für den Erfolg der Romane von Marcel Beyer und Rainald Goetz, von Ernst-Wilhelm Händler und Reinhard Jirgl, von Thomas Meinecke und Andreas Neumeister, Michael Roes und Patrick Roth, Ingo Schulze und Marlene Streeruwitz (um einige Beispiele aus den 90ern zu nennen) werden sehr unterschiedlich sein. Mag sein, daß die Kritik diese Texte vielfach als ›einfacher‹ erscheinen läßt, als sie tatsächlich sind, denn nicht immer entspricht dem komplexen Text auch eine komplexe Rezeption. Häufig erfolgt sie stark ›assimilierend‹ – dann wird der Text in den eigenen Erwartungshorizont radikal eingepaßt, ob er sich fügen will oder nicht. Dieses Prokrustesbett der Literaturkritik erleben wir besonders kraß in der Spontankritik, wenn die Urteilsfindung mit Argumenten geschieht, die nichts weniger als angemessen sind. Das Lob erscheint dann gleichsam schal, die Kritik gleichsam irrelevant, das Besondere des Textes ist nicht tangiert. In anderen Fällen widersteht der Text allen ›Assimilierungszwängen‹ – dann wird er radikal ausgesondert: Er gehört nicht zur ›Literatur‹, ist bloß ›Spielerei‹, lohnt die Auseinandersetzung nicht.

Warum aber gibt es immer wieder Leser, die sich spröde Autoren, schwierige Literatur antun? Autoren wie Carlfriedrich Claus, Marianne Fritz, Hartmut Geerken oder Franz Mon. Einmal im Jahr findet im umbrischen Badeort Passignano ein Paul-Wühr-Colloquium statt. Wührs Großpoeme sind so schwierig, daß man sie – auf sich allein gestellt – kaum angemessen entziffern kann. Aber in der Gruppe, mit erfahrenen Lesern, analytisch geschulten Köpfen, blitzen die Texte auf, fangen die Gesichter an zu leuchten. Man findet zu achtbaren Lesarten und entdeckt und entwickelt eine eigene Kompetenz, sich Texte zu erschließen. Was einem bei schwierigen Texten hilft, kommt einem auch bei einfachen entgegen. Und so wird die Erfahrung schwieriger Literatur zur Erfahrung des Selbst. Lesen ist, im Unterschied zu vielen anderen Medien, aktive Herausforderung. Als Leser muß man investieren, sich konzentrieren, sich sammeln, produktiv werden. Es ist eine Form der Selbstaktivierung, die enorme Kräfte freisetzen kann, bis hin zum beglückenden ›Flow‹-Erlebnis. Natürlich, das kann auch einfache Literatur hervorrufen, aber eine Literatur, die uns herausfordert, gibt uns das, was sie uns abverlangt, tausendfach zurück.

Literatur und Lesen hat etwas mit Lernen zu tun. Wir lernen im Laufe unserer literarischen Sozialisation, wie man mit Literatur umgeht. Wir entwickeln eigene Strategien, uns Texte zu erschließen. Das ist ein mehr oder minder lebenslanger Prozeß. Wir beginnen mit ›einfachen‹ Texten, Kinderbüchern, Märchen, Jugendbüchern. Irgendwann später kommen die Klassiker und Faust II. Unsere Strategien, uns Texte zu erarbeiten, wachsen mit – oder wir steigen aus. Wer mithalten möchte, muß beginnen, sich nicht nur Texte, sondern auch Methoden zur Texterschließung, Wissen über das Literatursystem und Theorien zur Genese von Kunst anzueignen. Unser Wissen über Literatur wird Teil eines umfassenderen Wissens. Ludwig Harig zum Beispiel erzählt in seinem Buch Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf (1996), wie er sich als Student 1955/56 in Stuttgart mit Max Bense, dem "Vater der Konkreten Poesie", und der literarischen Avantgarde konfrontiert sah. Wie daraus Literatur entstand. Wie aus dem reinen Sprachspiel neue Texttypen entstanden und eine sprachbezogene Gesellschaftskritik. Harigs Originalton-Hörspiel Staatsbegräbnis (1969) ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Im Alter dann wandelte sich Harig vom eher experimentellen zum eher konventionellen Erzähler.

Optimal ist ein literarisches Wissen, das auf der Höhe dieser Beschäftigung mit Autoren- und Produktionstheorien mithalten kann. Insofern wundert es mich, daß Kritiker bisweilen alles vergessen zu haben scheinen, was sie in der Disziplin, in der sie ausgebildet wurden, gelernt haben. Kritisieren heißt doch auch Differenzieren, heißt dem Komplexen Rechnung zu tragen. Aber wie hierzulande öffentlich über Literatur gestritten wird, das läßt vielfach gar nicht mehr die Bereitschaft erkennen, die eigenen Lesefertigkeiten auszuschöpfen und Literatur als Herausforderung zu begreifen. Die Literaturkritik ist in unserem Lande potentiell ›literaturfeindlich‹ eingestellt, ganz sicher aber ist sie wissenschaftsfeindlich. Sie vermittelt nicht, sie trennt: Literatur soll Literatur, Wissenschaft soll Wissenschaft bleiben. Die wenigen, die es doch immer wieder versuchen, Standards zu setzen, kann man an zwei Händen abzählen, es sind Kritiker wie Sibylle Cramer, Jörg Drews, Wolfram Schütte, Peter von Matt, Heinrich Vormweg oder Hubert Winkels. Die Entwicklung einiger jüngerer Namen muß man abwarten. Die Genannten setzen sich auch mit dem schwer Zugänglichen auseinander, und an ihrer kritischen Praxis trennt sich die Spreu vom Weizen, die qualitativ hochwertige, analytisch und synthetisch starke von der quantitativ dominanten, unter dem Gesichtpunkt der ›Erkenntnis‹ eher irrelevanten Mainstreamkritik. Man respektiert solche Kritiker, weil sie uns zeigen, wie sich mit Texten arbeiten läßt. Da möchte man dazugehören, die eigenen Mittel zeigen und die eigenen Möglichkeiten erweitern. Alles aufbieten, was man aufzubieten hat, Arbeit investieren, die sich – aufs Zeilengeld umgelegt – kaum rentieren dürfte. Dennoch: Der Gewinn ist nicht nur ein intellektueller, sondern letztlich auch ein materieller. Die Edelfedern sind nicht nur, was sie sind, weil sie sich im Literaturbetrieb gut bewegen können, Spezialisierung auf komplexe Literatur und emphatische Kritik ist auch ein rentables Geschäft. Man wird vom Literaturbetrieb ganz anders wahrgenommen: Verlage aller Größenordnungen werden aufmerksam und schicken Bücher aus ihren ambitionierten Programmen. Zeitschriften fragen nach Beiträgen. Das Sonntagsblatt will einen Essay. Literaturpreise wollen vergeben werden, Jurys winken mit ebenso ehrenvollen wie lukrativen Aufgaben, literarische Gesellschaften suchen einen Laudator und sichern sich die kritische Kompetenz. Abgesehen vom intellektuellen Vergnügen und der befriedigten Eitelkeit bedeutet das ›money through the roof‹.

Mit so verstandener Kritik verbindet sich nicht zuletzt ein Sendungsbewußtsein: Man will nicht einfach den Gesetzen des Marktes folgen, sondern ihnen entgegensteuern, sie im besten Fall diktieren. In seinem Dank an Peter Suhrkamp hat Theodor W. Adorno einmal formuliert, was einen guten Verleger ausmacht: "Unverkäufliches verkaufen, dem den Erfolg finden, das ihn nicht sucht, das Fremde ins Nahe wenden." Diesem Anspruch dürfen wir Leser, die wir nichts zu verlieren haben, doch nicht nachstehen, oder?

Zurück   Zur Startseite