Richtig hart FormuliertesRainald Goetz über die Steinzeit der elektronischen WeltVon Lutz Hagestedt I. Das Ganze der GegenwartAm 2. April 1998 erhält Rainald Goetz (geboren 1954) einen Brief der Johann Wolfgang Goethe-Universität, mit einer Einladung zu einer Konferenz über deutsche Literatur, Mitte September in Frankfurt am Main. Da soll dann diskutiert werden, ob die deutsche Literatur weltfremd und abstrakt sei. Es ist eine gute Idee, den Autor Rainald Goetz einzuladen. Er hat im Sommersemester die Poetikdozentur der Goethe-Universität inne, er nennt sie "Praxis", und der emphatische Praxisbezug des Schriftstellers Rainald Goetz ist ein Beleg dafür, daß der Vorwurf der Weltfremdheit und Abstraktheit an die Literatur so nicht stimmt, wie überhaupt die Goetz-Rezeption lehrt, Pauschalurteile zu vermeiden, zumindest: sie sofort wieder aufzuheben, ohne dabei die Extrempositionen aufzugeben. Die Poesie des Autors ist, jedenfalls der Fiktion nach, "superkonkret", ist unmittelbare Verschriftung von Sachen und Personen. Da kann er durchaus heftig werden, ungerecht zur Sache gehen, abqualifizieren. Es ist jedoch seine Methode, eine ständige Schaukelbewegung zwischen dem Pauschalen und dem Differenzierten entstehen zu lassen: Es geht ihm darum, wenn nicht ad hoc, so doch "über sehr weite Distanzen hinweg Balancen her[zu]stellen", weil "ein bestimmter Satz nur geht und geil ist und kickt", wenn "ihm auf der anderen Seite [...] irgendwo der Gegenteilsatz entgegengehalten werden kann, so daß einer den anderen hält und versteckt und ermöglicht." In seiner poetischen Melange zitiert Goetz aus den Medien, referiert er aus den Büchern, die er gerade liest, kommentiert er das Geschwätz der Welt, leistet er eine öffentliche Verknüpfungsarbeit. Das Konzept, das angestrebt ist, umschreibt er so: "Es ist eben die Gegenwart, deren Ganzes, das Ganze der Gegenwart. Was ich, verteilt auf einzelne Teile, sprechen lassen will, zum Sprechen bringen will." Mal ein Buch machen, mal ein Stück schreiben, mal eine CD produzieren, mal eine Vorlesung halten – das ist das Ganze der Gegenwart aus seinen/ihren Teilen. II. "Abfall für alle" – das geilste Sudelbuch seit LichtenbergAber woher weiß ich von der Einladung der Goethe-Universität überhaupt, woher kenne ich die private Korrespondenz des Rainald G.? Sie ist offen für alle, die Zugang zum Internet haben. Der Autor hat hier – seit Anfang Februar ("gleich / gehts los / / los gehts" – Einträge vom 2. bis 4. Februar 1998, Texte 111 – 113) – ein Projekt laufen, das für die Gegenwartsliteratur (noch) so ziemlich einmalig sein dürfte: "Hinbohren tue ich an dieses Ding seit: Mitte Oktober letzten Jahres." Tag für Tag publiziert er unter der Internet-Adresse "rainaldgoetz.de" ein Tagebuch. "Abfall für alle" heißt das Projekt, ein Abfallprodukt, das mit Perlen erster Güte durchsetzt ist. Ein Beispiel: "Und dann [...] stand ich vor so niedlichen süßen kleinen Birnen im Kaisers und dachte: sicher hundertfach gezüchtet und genmanipuliert und was weiß ich noch alles. Und daß ich das nicht verstehe, daß Leute davor Angst haben. Die ganze alternative Außenweltangst. Außen: alles Gift. Verstehe ich nicht. Der Witz ist, daß ich tausendmal mehr Angst vor mir selber habe, als vor allem Außen, das mir je geschehen könnte." Die Eintragung stammt vom 10. März; oft ist noch die genaue Uhrzeit ("Am Savignyplatz notierte ich: 1715"), die Geburtsminute der Beobachtung, festgehalten. Der Autor bedient und füttert sein Internet-Tagebuch regelmäßig und konsequent, zwischen einer und sieben Seiten kommen täglich hinzu, der Zählerstand steht heute (an Karfreitag) bei Text 234. Es funktioniert so: "Hier noch mal kurz eine geraffte Zusammenfassung der eben mit Herrn Brock für die Abfall Seite besprochenen neuen Details. / Also, man wählt sich ein. Es erscheint die Seite des letzten Eintrags. Dabei lädt der Computer alle Tage der laufenden Woche. Unten, am Ende der Seite, erscheinen diese Tage mit den ausgeschriebenen Namen der Wochentage. Jeder dieser Tage hat eine interne Ordnungsziffer [...]. / Klickt man auf das Zeichen ALT erscheint der Tag vor dem, den man gerade sieht. Klickt man von MONTAG aus auf ALT wird die ganze Woche davor geladen. Und man landet auf dem Sonntag vor dem Montag. Umgekehrt kann man sich mit NEU wieder nach vorne, Richtung Gegenwart bewegen." Es ist nicht ohne Witz, daß Goetz tatsächlich die Arbeitswoche der modernen Dienstleistungsgesellschaft als Einteilungsparadigma wählt: "Sonntag Ruhetag [...] – Abfall gibts nur an Bürotagen [...] – entstehen dann so Wochenpäckchen." Er hält sich genau an die bürgerliche Lebens- und Zeitordnung ("dann war Feierabend / das klingt gut"), die für ihn, den freien Autor, strenggenommen keinerlei Verbindlichkeit hat, aber eben doch dieses Grundgefühl vermittelt, daß ein Montag etwas anderes ist als ein Sonntag – und daß man danach lebt: "Fällt mir ein, wie ich den Tag schreibe, daß mir das bei Rühmkorfs Tagebuch immer oft so abgegangen ist: welchen TAG haben wir denn heute, welchen Wochentag? [...] Der Wochentag bestimmt doch auf eine Art ganz extrem das Grundklima der Zeitordnung, in der man sich irgendwie so eingeordnet, der man sich zugehörig fühlt. Ich bin Dienstag heute." Der simple Zeitbaum des Internet-Tagebuchs ist für den Leser/User einfach zu bedienen – für den Autor und seinen Programmierer steckt er voller Tücken und Unwägbarkeiten. Häufig ist in diesen Aufzeichnungen, wann immer es wieder Probleme mit der Fütterung des Daten-Highways gibt, der ironisch-zornige Stoßseufzer zu lesen: "STEINZEIT DER ELEKTRONISCHEN WELT." Aber der Autor Rainald Goetz kämpft einen tapferen Kampf mit dem rätselhaften Moloch Internet und seinen Zugangsmodalitäten. "Abfall für alle", das Internet-Tagebuch, ist Teil eines umfassenden Projektes: Der totalen Medialisierung des Lebens. III Verschriftung der eigenen PersonSpätestens seit seinem Klagenfurt-Auftritt mit "Subito" (1983) ist der literarischen Öffentlichkeit schockhaft klargeworden, daß das ästhetische Programm von Rainald Goetz auf eine Verschriftung der eigenen Person und eine Entmetaphorisierung der Schrift hinausläuft – ein aufregendes und naives, ein absurdes und ertragreiches, ein ganz plausibles und völlig wahnsinniges Projekt. Zum Leben des Event-Aktivisten gehören "Love Parades" und "Maydays", das Kino-, Club -, Musik- und Theaterleben, der Ecstasy-Trip ebenso wie der Kurztrip zum DJ-Workshop nach Tokio, Einkäufe ebenso wie Buchmessen-Empfänge. Und zwischendurch wird notiert und verschriftet: "Rainaldo", sagt DJ Westbam, der mit Goetz den Band "Mix, Cluts und Scratches" (1997) veröffentlicht hat, "Rainaldo hat ja die Angewohnheit, sich zwischendurch immer was zu notieren. Das ist zumindest [...] zeitnah. Zeitnahe Notizen." Das Internet-Tagebuch dokumentiert diese Zeitnähe auf eindrucksvolle Weise. Goetz scheint, während er vor dem Rechner sitzt und seine Notizen eingibt, auch fernzusehen oder Radio zu hören. Während er am Tagebuch arbeitet, fließen Nachrichtenbrocken mit ein und wechseln, so verschriftet, die Textsorte: "ich freue mich sehr / ich beglückwünsche / die Polizei zu ihrem Erfolg / ich danke allen / die daran beteiligt gewesen sind / daß es zu diesem Erfolg / gekommen ist // ich werde es / bei dem guten Brauch / belassen / über meine Gefühle in der Öffentlichkeit nicht zu sprechen." Hat man sie erkannt, die Stellungnahme Jan Philipp Reemtsmas zur Festnahme seines Entführers Thomas Drach in Argentinien? Goetz hat den Sprecher und sein Bild getilgt, von seinem Auftritt ist nur der reine Text geblieben, und dieser Text wird hier, im Internet-Tagebuch vom 30. März, en passent zum Gedicht transformiert. Es sind somit nicht bloß Zitate und Exzerpte, die der Autor einfließen läßt, es sind in der Regel Bearbeitungen des Materials, elegante und bisweilen eklatante Transformationen. Goetz fungiert nicht als Notar, sondern als Katalysator. Zwar schreibt er auf, was er erlebt, was er hört, was ihm durch den Kopf geht, was er denkt und empfindet, was andere denken und empfinden, wie er darüber denkt, was andere tun, denken und empfinden usw., aber diesem Vertexten ist ja bereits eine Selektion vorausgegangen: "Je mehr man aufschreibt, um so mehr merkt man, über was man alles NICHT schreibt. Ganz automatisch, weil man nicht darauf käme, oder aus Entschluß. Weil das bei jedem was anderes ist, das Ausgesparte, wächst der Kosmos des noch zu Sagenden immer noch weiter." Zwar hat er ständig "verschiedene Sounds" in sich – "einerseits wirklich Geredetes, andererseits richtig hart Formuliertes" (Goetz im Gespräch mit Westbam) – aber im Tagebuch entwickelt das logisch wieder seinen eigenen Sound. `Richtig hart Formuliertes´ blitzt beispielsweise auf, wenn Goetz eine "Altlieblingsstelle" aus einem Luhmann-Aufsatz zitiert, `bloß Geredetes´ bildet quasi das Basispattern dieser Aufzeichnungen: "Wie gehst du vor? Ich weiß nicht, es ist jedesmal anders. Ich probiere rum. Aber es muß doch paar Dinge geben, die sich bewährt, durchgesetzt haben? Vielleicht nur das Kritzeln, das Dauernde des eben nicht wirklich Schreibens, sondern da sozusagen so Rummachens, mit den dauernd geschriebenen Worten, den dauernd, während des Schreibens ja auch ausgesprochenen, irgendwo hin ins Zimmer gemurmelten Worten." Oft spricht ein vitaler, fast unbändiger Haß aus diesen Worten: "Niemandem sonst in der Presse wünsche ich so viel Übel und ganz konkret ausphantasiertes Leid, wie diesen ganzen Boulevardschweinen und Zynikern." Drive und Haß, Esprit und Witz, Nähe und Dynamik der Aufzeichnungen lassen sich aus dem FLUSH heraus erklären, aus der unmittelbaren Erregung, die spontan vertextet wird. Goetz steht unter Strom, wenn er schreibt, er reagiert quasi im Affekt, er denkt und formuliert heftig und entschieden. Das ist weder weltfremd noch abstrakt, sondern passiert aus dem "alltäglichen Sozialvorgang" heraus. Wenigstens einer, der reagiert – und aus den Reaktionen zitiert, die er bekommt. Das kann sich potenzieren. Die Menge seiner Sozialkontakte schwankt – mal sind es hunderte pro Tag, dann wieder führt er ein "Isoliertschreiber"-Dasein. Ein Großteil dieser alltäglichen Vorgänge, der Informationen, die ausgetauscht werden, findet sprachlos statt – zum Beispiel der Waren-Geld-Austausch an der Supermarkt-Kasse oder der Blicke-Körper-Austausch in der Discothek. Eine Beobachtung, die ihrerseits vom Autor sofort thematisiert wird, am Beispiel des Theaterstücks über Jeff Koons, das auch gerade entsteht: "Sicher gibt es wunderbare Untersuchungen darüber, ein wie großer Anteil an Kommunikation [...] nichtsprachlicher Art ist. Von dieser Frage handelt der Theatertext, auch jedenfalls, diese Textform, im ganzen äußerlichen, formalen, vorinhaltlichen Sinn. Deswegen ist das TEXTBILD des Theatertextes für mich automatisch auch so weiß. Sogar in direkt über SPRACHE laufenden Kommunikationen ist der gestisch übermittelte Informationsteil über zwei Drittel groß, oder sogar drei Viertel. Der Großteil der Informationen, die im verbalen Austausch übermittelt werden, ist NONVERBALER Art." Auch dies ist eine jener hart formulierten `Perlen´, die der Autor als Internet-Abfall produziert. Das Aufregende daran ist, daß man hier einem Schriftsteller in die Werkstatt schauen und beim Leben über die Schulter blicken kann – zumindest kann man sich einbilden, man könne das. An die Stelle der Sozialkontakte treten vielfach die medialen Kontakte, die Zeitungen, die aktuellen CDs, die Talkshows im Fernsehen: "Für mich ist Fernsehen so was, wie für andere die Natur." Das vorliegende Tagebuch-Simulakrum kann vermutlich nur den kleineren Teil des Wahrnehmungs- und Gedankenmaterials filtern und dokumentieren, das Goetz tagtäglich so produziert. Aber selbst das ist schon eine enorme Leistung. IV Tonträger und öffentlicher RaumDurch die Fülle der medialen Anbrandungen, die im Flusensieb des Erzählers hängenbleiben, entsteht ein öffentlicher Raum. Rainald Goetz sucht sich vielfältige Kanäle, ihn zu entwickeln und zu erweitern. 1994 ist ein CD-Projekt ("Word", Eye Q Records) erschienen; die Texte von Rainald Goetz sind mit Techno-Tracks von Oliver Lieb und Stevie Be Zet unterlegt und in einem Booklet in Deutsch und Englisch aufgelegt.. Eine zweite CD (mit dem Titel "Nightcrawlers. Push the Feeling On") ist in Vorbereitung. Das Booklet ähnelt einerseits dem Internet-Tagebuch, andererseits der Erzählung "Rave", die im Frühjahr bei Suhrkamp erschienen ist; es erzählt partiell von denselben Protagonisten, Events und "Drogenevents", Stoffen und Lokalitäten (von Wolli und Marina, von der Popkom in Köln und der Love Parade Party in Weißensee, von Ecstasy und deutschen Feuilletons), und es dokumentiert, wie es scheint, sogar eine der Geburtsstunden des Projekts. In "Das Beobachtungsverbot" (auf "Word") heißt es dazu: "Wolli wußte im übrigen ziemlich genau, was er so in etwa lesen wollte [...]. Bitte keine Bücher über hundert Seiten, keine Reflexionen. Lieber bitte Handlung, aber auch nicht unbedingt wie verrückt und auf Teufel komm raus. Schon so ein gewisses Gammlertum, aber auch wieder nicht unbedingt so ein spastisch cooler pasolinoider Vorstadtneoneorealismus. Mehr so einfach ganz normale lässige Typen, WIE WIR, ha ha ha. / Das gab es tatsächlich noch nicht, und das, was wir so geliebt hatten, die letzten drei, vier Jahre. Müßte doch endlich mal wer machen vielleicht, könnte ja vielleicht mal einer schreiben, den geilen Realreißer aus der Technowelt. Drogen, Sex, Musik; Party, Liebe, Plattenladen; Club, Klamotten, Internationalität. [...] Drogen ohne Ende, klar. [...] Alle personenbezogenen Daten natürlich verschlüsselt. Oder totaler Klartext, klar. Nicht zuviel Stakkato natürlich, sagte Wolli, um die Serie allzu kurzer Gehetztsätze gerade noch rechtzeitig zu unterbrechen, bevor sie umkippte ins Ironische. War ja ernst gemeint das Ganze. Würde ja auch irgendwer machen irgendwann hoffentlich, völlig klar. Müßte wirklich extrem SAUGUT gemacht werden. Am besten natürlich vielleicht doch direkt wirklich von uns selbst. Abgemacht." Das gab es also bisher tatsächlich noch nicht, dieses Programm, und Rainald Goetz löst es ein: "Der öffentliche Raum, der durch alles Geschriebene entsteht", setzt sich in der öffentlichen Rede fort, konkret etwa in den Frankfurter Poetikvorlesungen, die unter dem Titel "Ästhetische Praxis. Praxis Dr. Wirr. Poetikveranstaltungen" angekündigt und derzeit als "Praxis" plakatiert sind. Die Überlegungen, die Materialsammlung zu dieser Vorlesungsreihe im Sommersemester 1998 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt kann man bereits dem Internet-Tagebuch entnehmen. Die Chance, die Vorlesungen auch im Fernsehen zu sehen, ist leider vertan: "1043 Anruf von Frank: er habe gerade eben `Feindberührung´ gehabt, Herr Schöller vom Hessischen Rundfunk hätte angerufen. Nachdem Frau Streeruwitz also im letzten Moment abgesagt hätte, wollten sie jetzt wissen, ob ich da die Poetikvorlesungen filmen lassen würde. Frank: ja, prinzipiell schon, aber es bestehen da genaue Vorstellungen wie, von wegen starrer Kamera. Schöller: NEIN, kommt nicht in Frage, da lassen sie sich nicht reinreden, ich hätte schon früher mit Podak solchen Ärger gemacht, wir haben Berichterstattungsfreiheit in Deutschland uswusw. So so. Na gut. Dann eben nicht." V Rave – Wir amüsieren uns zu TodeWenn sich "das Ganze", wie eingangs postuliert, in seinen Teilen manifestiert, sich in seine Teile diversifiziert, dann gehört dazu für einen Autor auch das Buch: "Ich kenne keinen Informationsträger, der als Objekt so schön ist, wie ein BUCH. Die Masse der da gespeicherten Datenmenge. Bei gleichzeitiger Kleinheit des Dings. Die Art, auf die Daten zugreifen zu können, der Blätterspaß. Man kann die Form der Sukzession wählen, oder mit einer Geschwindigkeit, um die normale Computer und Textprogramme das Buch immer noch beneiden, im Datenganzen floaten, springen, sich treiben lassen." Das neueste Buch von Rainald Goetz ist die gerade erschienene Erzählung "Rave" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998). "Rave" stellt dar, wie es in jener "Big Fun"- und "Hard Times"-Kultur der Clubs und Maydays, der Partydrogen und Love Parades zugeht. Genauer: Wie Rainald Goetz sie sieht und vermittelt. "Rave" ist ein Bild der Alkohol-, Sex- und Drogenexzesse der Techno-Szene; es thematisiert die `Borderlines´ dieses latent kriminellen Milieus; es zeigt, wie man – an den Rändern der Spaßgesellschaft – für ein exzessives Leben den Verlust der Person in Kauf nimmt; "Rave" ist die Lebensformel einer unglaublich harten Erlebnisgesellschaft, deren Losung mit Neil Postman lauten könnte: "Wir amüsieren uns zu Tode." Dergleichen gibt es bisher nicht. Zwar haben wir den Rauschgiftjahresbericht der Bundesregierung, Enquete-Studien zur Jugendkultur, sowie den unsäglichen Pop- und Bravo-Journalismus – aber wir haben kaum brauchbare Literatur über die Techno-Szene und den "Rave" und also keine ästhetisch überzeugende Darstellung dieser hirnrissigen und unvernünftigen Lebenspraxis am – tendenziell – unteren Rand der Gesellschaft. Und insofern auch keine realitätsgerechte Rekonstruktion der Utopien, die ihr womöglich zugrunde liegen: "LÜGE steht immer ganz groß in grau auf jeder Seite, wo das versucht wird. Denn es entsteht ein Gestus biederster Verniedlichung [...], ein gleichzeitig romantisch verkitschter Überhöhungston, [...] der das Revolutionäre scheußlich verlogen verklärt zu so einem Pseudoding von Verzicht und Strenge, Aufgabe und Pflicht." Das Wort, das adäquat davon erzählen könnte, von der Härte, der Brutalität, vom Absturz, vom Filmriß, von der rasenden Bewegung, der Schnelligkeit der Cut ups, der Flüchtigkeit der Wahrnehmungen, der trügerischen Eindrücke, ein solches Wort müßte im Sprechakt bereits Schöpfungswort sein, es müßte, ganz im alttestamentarischen Sinne, nicht für die Sache stehen, sondern die Sache selbst sein. Aber das geht ja gar nicht. Auch nicht annäherungsweise? "Wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt?", fragt der Ich-Erzähler, ziemlich zu Beginn von "Rave." "Rave" (zu deutsch `rasen´, `toben´, `phantasieren´, `schwärmen´ - ist zugleich ein unbestimmter Terminus der populären Musik) bezeichnet den Gestus der Prosa und umschreibt die Dynamik der Lebensform, die hier dargestellt wird. Goetz geht etwa wie folgt vor: Sein Erzähler ("Rainald") bewegt sich durch die Disco-, Freizeit- und Partyräume. Tausende von Menschen. Wer in den Sinn, in den Blick kommt, wer "erkannt" wird und bezeichnet werden kann, es sind circa zweihundert, dreihundert Personen, wird "notiert." Von diesen hunderten von Leuten sind nur einige Dutzend spärlich attribuiert, mit ein paar Merkmalen, ein paar Redewendungen, ein paar Handlungsweisen ausgestattet. Ist das ein bißchen wenig? Mag sein, aber was Goetz hier von der Praxisseite her vorführt, ist ja nichts anderes als das, was Niklas Luhmann von der Theorieseite her beschreibt, nämlich die Art und Weise, wie wir uns im tagtäglichen Informationsüberfluß verhalten. Da wir nicht alles aufnehmen und bewußt wahrnehmen, was uns anbrandet, da wir nicht alle Information bedenken, überdenken, kritisieren, verarbeiten können, ist es unsere Strategie, es einfach nur zur Kenntnis zu nehmen und abzuhaken: Wir blättern uns durch Zeitungen, zappen uns durch Fernsehprogramme, denken "Aha, so ist das; weiter, weg damit", merken uns allenfalls Stichwörter, Eselsbrücken und Verknüpfungsregeln. Es bleibt nicht aus, daß Namen hängenbleiben, die wir irgendwo ablegen, "halbbewußt verwalten" und beispielsweise "Konrad Adam – F.A.Z. – Leitartikel – konservativ" denken, oder "Groer – Wien – Kardinal – sexueller Mißbrauch." Im Internet-Tagebuch heißt es dazu: "Wie oft fragt man sich: wer spricht? Wer schreibt denn das? [...] Von wem ist denn das? Kurzer Blick, zack, gespeichert. Weiter, weg. Nächstes Ding. Und wie dann da, im Grunde über Jahre und Monate hin, um bestimmte Namen so ganz ungeordnete Vorstellungen agglutinieren. Man denkt sich nicht dauernd ganz präzise: zu dem denke ich das und das. Den finde ich so und so. Das sind ja alles mehr so Urteilsanmutungen, eher als wirkliche Urteile, die einem ganz präzise vor Augen stehen würden." Wenige Namen also nehmen Konturen an, verknüpfen sich mit genauen Vorstellungen über die Person, noch weniger Dinge, Leute, Sachverhalte erreichen den Status, daß man sich eine Meinung über sie bildet. Eine Fülle von Inputs, ein Sperrfeuer der Informationsgeschütze ist nötig, damit der Panzer aus Selbstschutz und Desinteresse durchbrochen werden kann. Wenige `Frames´ bloß werden Gegenstand des Redens und Nachdenkens, und wohl ein verschwindend geringer Teil erreicht den Status des Interesses oder gar Kultstatus, Personen etwa wie Harald Schmidt oder Quentin Tarantino oder Sven Väth. Das sind dann letztlich die, zu denen man auch ein emotionales Verhältnis entwickelt, nicht nur Gleichgültigkeit produziert, und mit denen man in imaginäre Dialoge eintritt. Selbst der Kreis der Freunde und Bekannten muß aus Mangel an Kapazität überwiegend im Windschatten der Reflexion verbleiben. Nur die ausgesprochenen Feinde, die Bewunderten und Verachteten treten heraus, und das entspricht ziemlich genau dem, was Rainald Goetz als Literatur praktiziert: "Letztlich stelle ich mir eine Literatur vor, die wie Zeitung ist. Noch nicht mal wirklich BESSER als Zeitung, sondern nur erweitert um dieses eine reale Einzelmoment, das jeder einzelne Leser der Zeitung zufügt, durch sein Lesen, in Gedanken, in Gesprächen, durch seine Interessen, sein emotionales Geführtsein von seiner Geschichte, all das als sozusagen abstraktes Schwerefeld, nicht EIN konkretes Leben, sondern die allgemeine Tatsache, daß dem Allgemeinen ein Ich gegenübersteht, ixzillionenfach." "Rave" hat keine am Reißbrett entworfene, von A nach Z entwickelte `Geschichte´, "mit der Textform Exposé als Vorbild": "Das kam mir dann immer voll lächerlich vor, absurd, grotesk. Dann eben nicht. Daß es darum bei mir eben nicht geht, egal was ich mir vornehme. Daß der ORT der Sprache sich irgendwie einstellen muß, durch irgendwas, sich finden muß, von dem aus der Text spricht, an dem ihm alles zusteht, ganz automatisch dann auch. Und daß dieser Ort sich bei mir durch die dauernden, an allem Gelesenen und Gefernsehten anschließenden theorieartigen Überlegungen eben erschließen würde." Das ist das Modell für die Erzählung wie für das Internet-Tagebuch. Natürlich ist "Rave" formal-inhaltlich strenger, disziplinierter, jedoch "ohne jeden erzählerischen Firlefanz, der mich immer so krank macht." Was aufgeschnappt wird, wird notiert; was empfunden, was gesehen wird, was geschehen ist, wird notiert; unwillkürliche Bewegungen und Gedanken – werden notiert. So kann das Wort zwar nicht Fleisch werden, aber es kann ganz nah bei den Ereignissen, bei den Dingen sein. Bis die Dinge selber sprechen: "Ein Kokain-Päckchen würde natürlich, schön ordentlich eng eingepackt zwischen Ausweisen und Kreditkarten, ganz was anderes erzählen, als irgendwelche frei in irgendeiner Jackentasche herumlungernden Kokainsäckchen oder irgendwelche ganz anderen Drogen. / Die Wetten konkurrierender Bodenplatten miteinander, wer von wem demnächst betreten werden würde, [...] oder die Kommentare der Säulen über die an sie gelehnten Gäste, über deren Dialoge, undsoweiter usw – / Man hätte da eine irrsinnige Freiheit der Rede." VI Beobachter und Beteiligter zugleichHätte, wenn es möglich wäre. Was Goetz hier, in diesen elliptisch verkürzten, bloß angerissenen Sätzen und Gedanken vermitteln will, ist wohl die Ahnung von einem "Körpergefühl": Inmitten von Musik und Drogen, von Lichtern und Tänzern zu stehen, vom großen "Bum-bum-bum des Beats" bewegt zu werden und dadurch "selber die Musik" zu sein, "Wellen von Sympathie" zu spüren, "das Schöne" zu sehen. Das Absolute, das Ideale also findet sich in den Clubs, im Partyraum auf der Tanzfläche, vor den hämmernden Boxen, am Pult des DJs oder an der Bar. Die Erfahrung des Raves, der Musik und der Drogen ist etwas zugleich Körperliches und etwas Geistiges, und diese Erfahrung wird durch das gemeinsame Erleben und durch das sich zunickende Bekenntnis noch ins Glückhafte gesteigert. Hier läßt sich Erfüllung und Freude, Absturz und Zerstörung im Kollektiv erfahren, Worte sind nicht nötig (oft auch nicht möglich), Sprach- und Wahrnehmungsfetzen bilden den kommunikativen Regelfall: "Wieso? / Keine Ahnung. / Geil." oder: "Oh ja. Wow - ... – hmm ... – du - / dingens - / ja - / ich auch - ...." In dieser Rave-Gesellschaft, die Goetz beobachtet und erlebt, beschreibt und kommentiert, gibt es – wie in der Normalität – Euphorie und Agonie, "Zerstörte und Kaputte", Abgestumpfte und "Erleuchtete." Der "Fun" und das "Excitement", das "Feiern" und das "Poppen" werden von einer Begleitspur des Todes und der "Auslöschung", ja, nicht eigentlich relativiert, vielmehr potenziert, denn wer allein dem Lustprinzip folgt, muß sich immer neue Grenzen setzen und sie überwinden, muß immer neue Stimulanzien ausprobieren, bis er sich endlich an der Todeslinie bewegt. Diese Spannweite zwischen `Celebration´ und `Damnation´ gibt dieser Prosa ihre atemlose Dynamik und Spannung. Es ist keine Ohrensesselprosa, bei der man sich entspannt zurücklehnen könnte, wie schon durch die Verteilung der Tempora sichtbar wird: "Rave" ist fast durchgehend in der Tempusgruppe I (Präsens, Perfekt, Futur I usw.) erzählt, durch das `gespannte Reden´ ist der Leser unmittelbar beteiligt, glaubt sich im Zentrum des Geschehens. Aber wie genau erzählt Goetz es denn? Indem er den Signalen folgt, die er empfängt. Unmittelbar folgt. Also wird weniger ein lineares, hypotaktisches Erzählen praktiziert – das gibt es in einigen Mikrogeschichten und essayhaften Digressionen freilich auch -, sondern ein sprunghaftes, tableau- oder patchworkartiges Erzählen. Wie schon in seinen früheren Büchern, etwa im ersten und dritten Teil seines Romans "Irre" (1986) oder in "Festung" (1989) ist auch in "Rave" ein Montageprinzip zu beobachten, ein Mixtum Compositum aus diversen Diskursen der Mediengesellschaft, ein Tagebuch-Simulakrum, dem es darum geht, die Wirklichkeit "nicht sofort ins Metaphorische" zu kippen, "sondern reale Beschreibungen dessen zu machen, was da wirklich zu sehen ist." Stärker als in weiten Teilen der "Festung" etwa ist hier eine Haupt- und Filterfigur spürbar (sie heißt ebenso wie "der Typ, der Irre geschrieben hat"), die ein "Notizbüchlein" mit sich führt und beobachtend, erlebend, teilhabend, notierend und verschriftend unterwegs ist. Gleichwohl gibt es keinen durchgängigen Fokus auf diesen einen Protagonisten. Die Erzählsituation ist vielmehr additiv in den Segmenten, ergibt keine kohärente Narration, sondern wechselt sprunghaft die Schauplätze, Themen und Prosaformen (im Spektrum zwischen Theorie und Praxis, Erzählung und Essay). Gleichwohl ist es kein unkontrolliertes Delirieren: Die Erzählinstanz scheint sich im Gegenteil ganz gezielt aus verschiedenen thematischen Töpfen zu bedienen und sie zu einer Einheit bewußter Erfahrung zu organisieren.
VII Wider den brutalen Dauerbeschuß der Moral Zum ersten Mal in einem Buch von Rainald Goetz sind Frauen in nennenswerter Form Redegegenstand, wird Sexualität mit Frauen gedacht und praktiziert: "Die `Frau´. Unglaublich. Das war mir gar nicht so klar gewesen bisher. Das Frauen-Ding. Was das überhaupt für ein tolles Ding ist. Mir war das neu. Ich kannte das nicht." Die Sexualität gehört, neben der Drogenproblematik, zu den wenigen Bereichen, wo die Gesellschaft noch relativ rigide Restriktionen respektiert, wenn auch nicht unbedingt aus Gründen der bürgerlichen Moral: So kann man über Drogen "nichts Gutes sagen, das wirkt sofort pervers." Und das Perverse unterliegt, so enthemmt und aufgeklärt man sich in der Raverszene auch geben mag, einem Denk- und Redeverbot. Gegen das "Rainald", der Erzähler, wenn möglich, verstößt. Kaum ist die Frau entdeckt, kaum hat er "geheime Sachen über Frauen" erfahren und begriffen, "wie sie anders in den Körpern wohnen", da wird auch schon nach Herzenslust provoziert. Unter dem Kürzel "JR" (als die Inkarnation alles Fiesen und Zynischen von "Dallas" her bekannt) wollen Jerome und Rainald ein CD-Projekt verwirklichen, wobei "Rainald" ein großes "Kindersex-Verherrlichungs-Monument" im Sinn hat: "eine Art Pierre-et-Gilles-Weltsicht-Feier, ins Akustische, Musikalische übersetzt, nur ohne die schwule Obsession, mehr mit beidem, so ganz polymorph pervers, natürlich auch mit kleinen Mädchen und so. Ist ja süß: Infantilsex für alle. Totale Harmonie. Schöne Kinder, und dann: alles ganz toll." Bedenklich, nicht wahr, wie hier bewußt gegen die letzten Bastionen der Moral angeschrieben wird? Freilich aus einem uneigentlich-provokanten Gestus heraus, aber doch mit einem ernsten Hintergrund. Denn was Goetz ablehnt, ist der "brutale Dauerbeschuß der Moral" in den Medien – selbst die geliebte Pop-Gazette Spex "trieft davon", ebenso wie das letzte Buch von Diedrich Diedrichsen. Darin bleibt sich der Autor treu: Seit "Irre" werden alle Normierungsleistungen und Identitätsangebote der Gesellschaft aggressiv verworfen, und auch die Begeisterung für den Rave bedeutet nicht, daß Goetz diese Lebensrausch-Mesalliance von Sex, Pop und Drogen konsistent verteidigen würde. Sein Buch ist nicht mehr und nicht weniger als eine schlichte Darstellung der Glücksmomente und der schieren Begeisterung, die mit "Beklemmung", Verfall und Selbstverlust einher gehen: "Ich war kurz kotzen, jetzt gehts mir wieder super." Der Autor verkennt nicht, daß so zu leben rücksichtslos ist, Sprengstoff birgt, Werte und Normen über Bord kippt – ein "asozialer Sozialzustand" eben, "keiner hilft keinem." Es ist das praktizierte Leben dieser Leute, Regeln zu brechen und sich selbst und andere zu gefährden. Aber wenn hier ein implizites und explizites Einverständnis mit dieser `kaputten´ Lebenshaltung zu registrieren ist, gerade dort, wo sie den Normverstoß, die Tabuverletzung, das Verbotene impliziert, dann geht das über den Rave hinaus. Dann ist es bereits die allgemeine Tendenz, mehr für sich herauszuholen, als legitim wäre: Ob es sich um den gemeinen Steuerflüchtling handelt oder um den Drogenkonsumenten – das ursprünglich Böse ist in unserer Gesellschaft schon das Normale. Nur die Pfahlbürger wiegen sich noch in Sicherheit, während der Contract Social längst aufgekündigt ist. Es gäbe noch viel zu sagen zu diesem aufregenden Projekt – ein irritierendes Moment sei zumindest kurz angerissen: die Frage, weshalb in "Rave" dauernd mit quasi-religiösen Bildern Redeformen und Inszenierungen gearbeitet wird: "Die Wiederauferstehung, klaro." / "Eine göttliche Stunde." / "Die Epiphanie." Das Körpergefühl des Ravers, so die These an einer Stelle, lasse sich am ehesten im "Sound" eines Ave Marias ausdrücken: "Sowas in der Art von: bene - / benedictus - / bist du - / und gebenedeit auch unter deinen Leibern -." Gewiß ist damit kein Bekenntnis verbunden, zumal die biblische Botschaft unbegreiflich erscheint: "Und ich verstand dieses Bild nicht: Baum, Eva, Apfel, Schlange. Versuchung. Erkenntnis. Was meinen die damit?" Der Rave ist, das will diese religiöse Metaphorik wohl andeuten, im Prinzip "eine komische Religion" aus Acid und Techno ("Wer baut? Wer hackt? Wer bricht das Brot?"), unverständlich wie das Numinose, Tremendum und Fascinosum zugleich, und er hat, wie Religionen es tun, bereits eigene Rituale entwickelt und sich eigene Götter – die DJs – erkoren. "Rave" ist über weite Strecken ein Buch mit Komik: Etwa wenn Goetz Lebensläufe reicher Töchter erzählt, oder von Jasmin, der "Viva"-Moderatorin berichtet: "Jasmin führt ein wahnsinnig aufregendes Leben." Man kann es sich vorstellen – eine Erzählung voller Mikrogeschichten. Man liest es vielleicht auch deshalb so gerne, weil diese absurde, bisweilen geradezu obszöne Komik über der bzw. in der dargestellten Welt selbst liegt und weil sie einem unmittelbar einleuchtenden Vergnügen am Widersprüchlichen, Vieldeutigen, Hirnrissigen und Unvernünftigen– kurz: aus dem geistigen Spagat entspringt. In einem klugen Exkurs über "Festung" hat der Bochumer Germanist Jürgen Link ("Versuch über den Normalismus", Opladen 1997) herausgearbeitet, daß Goetz in seinem "Café Normal" einen neuen Typ von Montagetechnik entwickelt, in dem es keine gezielte vorgängige Sortierung bestimmter Ideologeme mehr gibt, die eine konsistente Haltung erkennen ließen. Auch "Rave" ist ein Schlag ins Gesicht für jede Art von Gesinnungsschreiberei, und ganz konsequent ist es auch keine Verteidigungsschrift der unheilvollen Mesalliance von Sex, Pop und Droge. Es ist schlicht die Beschreibung dessen, was mittlerweile "normal" ist in dieser Szene. Die spezifische Prosamischform, die er hier kreiert hat, transportiert etwas von der Abgeschmacktheit, der Faszination und der Sinnlichkeit dieser uns vielleicht fremden Erfahrungswelt. Und dann wieder spürt man seinen heuristisch-operationalen, beinahe soziologisch-analytischen Zugriff. Dafür ist hier endlich eine Form und eine Sprache gefunden! Wie kein zweiter ist Goetz in der Lage, verschiedene Register anzuwählen, die gewährleisten, daß er einerseits aus dieser eigenen Welt erzählen kann, ohne intellektualistisch über ihr zu stehen, und daß er sie andererseits diskursiv und metadiskursiv (in Theorie- und Essayform) erörtern kann. Am Beispiel der Komik wird spürbar, daß Rainald Goetz die idealen Voraussetzungen erfüllt, jene mittlere Distanz einzunehmen, die sowohl Anteil am "Prolligen" der Szene hat, als auch über die notwendige Distanz verfügt. Aber egal, welches Register Goetz zieht, immer ist er bei sich selbst, keine Redeform oder Erzählweise wirkt aufgesetzt, oft gehen die verschiedenen Diskurstypen nahtlos ineinander über, immer sind sie direkt funktional: "Rave" ist "das erste kleine Ding einer großen Sache, die in möglichst dichter Folge weiter fortgeführt werden sollte." |